2. Mai 2024

"Darum brauchen Demokratien Krisen"...

...eine Diskussion mit der Historikerin Hedwig Richter (Universität der Bundeswehr München) und dem Philosophen Francis Cheneval (Universität Zürich) in der Sternstunde Philosophie des Schweizer Fernsehens SRF. 

Bei allen Gemeinsamkeiten, die die Diskutanten bezüglich der Stärken der liberalen Demokratie haben, fallen doch interessante Unterschiede auf. Während Richter angesichts der Herausforderungen der Gegenwart insbesondere des Klimawandels auf mutige Repräsentanten setzt, die die nötigen Entscheidungen treffen müssten und sich nicht nach dem Volk richten dürften (letzteres sei Demoskopie), kann Cheneval nicht nachvollziehen, weshalb dies ein Plädoyer gegen die direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild sein sollte, denn man könnte ja dem Volk genau diese Notwendigkeiten erklären. Dann bestünden Chancen, in diesem Sinne auch zu einer demokratischen Entscheidung zu gelangen. Dass es der Mehrheiten bedarf, daran ließe auch Hedwig Richter keinen Zweifel, erweckte aber ob mancher Behauptung den Eindruck, es gehe um ein antipodisches Verhältnis zwischen Volk und Repräsentanten, was zu verschiedenen Nachfragen der Moderatoren führte. 

Überhaupt hat man den Eindruck, dass Hedwig Richter nicht klar differenziert zwischen plebiszitärer und direkter Demokratie, worauf Cheneval sie mehrfach hinweist. Plebiszitäre Demokratie sei eine Demokratie von oben, so Cheneval, sie werde von den Mächtigen eingesetzt, um eine Politik in ihrem Sinne zu erreichen; direkte Demokratie hingegen sei eine Demokratie von unten, weil sie dem Volk Gestaltungsrechte gebe (Referendum und Volksabstimmung). Man müsse, so Cheneval, in diesem Sinne auf das Volk zugehen, es zu überzeugen versuchen, was nicht gleichzusetzen ist damit, ihm nach dem Mund zu reden. 

Dass Repräsentanten mutiger sein könnten und damit Diskussion eröffnen, die die Bürger womöglich noch gar nicht in ihrer Relevanz erkannt haben, ist ein wichtiger Aspekt. An keiner Stelle allerdings wird von von Hedwig Richter erwogen, dass der Verweis auf das Volk in heutigen Debatten auch als Ausrede dienen kann, denn ohne direktdemokratische Elemente ist nicht bekannt, was das Volk genau denkt und wie es zu manchen Fragen steht. Selbst in der Schweiz haben sich Parteien schon getäuscht darüber, wie es um die Befürwortung oder Ablehnung einer eidgenössischen Volksinitiative steht (siehe für den Fall des Minarettverbots hier).

Insofern sind manche Behauptungen widersprüchlich, wenn Richter auf der einen Seite darauf hinweist, dass es Mehrheiten für mutige Politik gebe (dann benötigt es den Mut ja nicht mehr), auf der anderen Seite aber beklagt, die nötige Politik werde viel zu zögerlich vorgebracht. Umfragen als Beleg dafür anzuführen, welche Mehrheiten es gibt, wie sie es in der Diskussion tut, gehören ja gerade zu der von ihr kritisierten demoskopischen Haltung von Politikern. Da rätselt man beim Verfolgen der Diskussion. Abgesehen davon bilden Umfragen nicht ab, wie sich Bürger tatsächlich entscheiden würden, weswegen erfahrene Politiker auf Umfrageergebnisse, die für dies und das sprechen würden, schulterzuckend - und zurecht - antworten, dass es nur Umfragen sind.

In mancher Hinsicht treffen in der Diskussion auch zwei unterschiedliche Kulturen von Demokratie aufeinander.

Sascha Liebermann