22. Oktober 2020

Unwillige Leser oder blinde Flecken der Argumentation? - Nachtrag zu "Garantierter Job oder garantiertes Einkommen?"

Der Beitrag hat zu einer Diskussion geführt, weil er Fragen aufwarf, auf die der Verfasser selbst antwortet - siehe hierzu den Thread auf Twitter. Die Leser scheinen den Verfasser nicht richtig verstanden zu haben, das zumindest sieht er so. Die Einwände gegen seinen Beitrag sind meines Erachtens berechtigt, siehe meinen gestrigen Kommentar hier. Der "Ausschnitt", mit dem der Verfasser erklärt, weshalb nicht alles in dem Text verhandelt werden könne und deswegen die Leser Dinge missverstehen, erklärt keineswegs die dortigen Widersprüche und undifferenzierten Argumente gegen ein BGE.

Erkennen lässt der Text  unexplizierte Voraussetzungen und normative Setzungen, die nicht weiter reflektiert werden, z.B. bezüglich der Folgen von "Arbeitslosigkeit". Dass es nicht an diesem Text liegt, zeigen auch andere Beiträge des Autors, so der im August veröffentlichte Beitrag auf der Website der Pufendorf-Gesellschaft, ein früherer Beitrag auf Jacobin argumentiert vergleichbar.

Zwei entscheidende Dinge werden nicht reflektiert: zum einen die Auswirkungen des normativen Vorrangs von Erwerbstätigkeit auf die Lebensführung samt aller Stigmatisierungseffekte bezüglich Nicht-Erwerbstätigkeit. Der Vorrang führt eben gerade erst zu bestimmten Problemen, die es ohne ihn nicht gäbe. Terminologische Begriffe wie "freiwillige Arbeitslosigkeit" suggerieren eine gleichrangige Option zur Erwerbstätigkeit, das kann aber nur behaupten, wer die Folgen übergeht. Zum anderen wird vom Individuum, seinen Interessen und Neigungen, abstrahiert, wenn von sinnvollen oder dem Gemeinwohl dienlichen Jobangeboten gesprochen wird. Ob sie für den Einzelnen sinnvoll sind, kann nur er selbst entscheiden, nicht der Anbieter. Der kann lediglich aus Sicht praktischer Erfordernisse, seien es privatwirtschaftliche oder staatliche, solche Angebote für sinnvoll halten. Insofern stellt sich insgesamt bei der JG die Frage, wie sie denn praktiziert werden soll, ohne Neigungen und Interessen des Einzelnen zu übergehen? Auch darauf bietet der Text keine Antwort. Ein wirkliches Angebot wären die Job-Angebote erst, wenn derjenige, der sich ihnen gegenüber sieht, sie verweigern kann, ohne ein Mindesteinkommmen aufs Spiel zu setzen, das ihn nicht stigmatisiert. Das ist bislang nicht der Fall und war und es vor der Agenda 2010 ebensowenig, weil Sanktionen zum erwerbszentrierten Sozialstaat dazugehören.

Sascha Liebermann