Diese Frage wirft ein differenzierter Beitrag über Mindestlohn von Günther Grunert, der auf den Nachdenkseiten veröffentlicht wurde, auf. Der Autor beantwortet sie eindeutig. Eine Diskussion über die "job guarantee" halte er für fruchtbarer als eine über das BGE. Grunert stellt in seinem Beitrag differenziert Ergebnisse von Studien zum Mindestlohn und möglichen Wirkungen dar und weist auf offene bzw. nicht beantwortbare Fragen hin. Weshalb er eine "job guarantee" für sinnvoller hält, sagt er gegen Ende des Beitrages:
"Es stellt sich abschließend die Frage, ob die Einführung eines
flächendeckenden Mindestlohns ausreicht, um die zunehmende Ungleichheit
der Einkommensverteilung in Deutschland und insbesondere die wachsende
Armut am unteren Ende der gesellschaftlichen Skala wirkungsvoll zu
bekämpfen. Dies ist zweifellos nicht der Fall. Der bedeutende
US-amerikanische Ökonom Hyman Minsky stellte mit Recht fest, dass ein
gesetzlicher Mindestlohn nur in Verbindung mit einem „Arbeitgeber
letzter Instanz“ („employer of last resort“, ELR) voll wirksam sein
könne, denn ansonsten sei der wahre Mindestlohn für all diejenigen, die
keinen Arbeitsplatz finden könnten, gleich Null: „Die wichtigste
Tatsache, die den Diskurs über den Mindestlohn beherrschen sollte, ist
die, dass er für die Arbeitslosen $ 0,00 pro Stunde beträgt […]“ (Übersetzung G.G.). Mindestlöhne und gleichzeitig weiter
bestehende Arbeitslosigkeit seien unvereinbar: „Eine Welt mit gemessener
Arbeitslosigkeit und Mindestlöhnen ist in sich inkonsistent; ein
effektives Mindestlohnprogramm muss sicherstellen, dass Jobs für alle
zum Mindestlohn verfügbar sind“ (Minsky 1986, S. 310; Übersetzung G.G.)..."
Diese Seite des Mindestlohns, nur dort direkt wirksam werden zu können, wo auch ein Arbeitsplatz zur Verfügung steht, spielt in der BGE-Diskussion ebenfalls eine Rolle. BGE-Befürworter - ich auch - haben darauf hingewiesen, dass der Mindestlohn für all diejenigen nichts bewirke, die nicht erwerbstätig sind. Das ist allerdings keine große Einsicht, auch wenn sie oft übersehen wird.
Weiter heißt es bei Grunert:
"...Minsky sprach sich deshalb bereits in den 1960er Jahren für ein
ELR-Programm aus, bei dem der Staat allen Arbeitsuchenden, die bereit
seien, zum Mindestlohn zu arbeiten, Jobs entsprechend ihren Fertigkeiten
und Kenntnissen zur Verfügung stellen sollte (Minsky 1965, 1968, 1973,
1975, 1986). Nur der Staat sei in der Lage, ein „unendlich elastisches“
Angebot an Arbeitsplätzen zum Mindestlohn zu schaffen. Der Staat als
„Arbeitgeber letzter Instanz“ zieht damit nicht nur eine Untergrenze für
die Löhne, sondern auch für den privaten Konsum (und die aggregierte
Nachfrage), und erhöht so die Wirksamkeit antizyklischer Fiskalpolitik
(die Staatsausgaben steigen in der Rezession und fallen in der
Aufschwungphase, in der die Arbeitnehmer in wachsendem Umfang vom
Privatsektor „abgeworben“ werden). Das ELR-Programm würde die
Mindestlohngesetzgebung überflüssig machen: „Arbeit sollte für alle verfügbar gemacht werden, die zum nationalen
Mindestlohn arbeiten möchten. [...] Dies würde das Mindestlohngesetz
ersetzen, denn wenn Arbeit für alle zum Mindestlohn vorhanden ist, steht
den privaten Arbeitgebern keine Arbeit mehr zu einem Lohn unterhalb
dieses Minimums zur Verfügung“ (Minsky 1965, S. 196; Übersetzung G.G.)..."
Sehen wir einmal davon ab, ob das tatsächlich von staatlicher Seite
leistbar ist und sehen wir auch davon ab, ob solche Arbeitsplätze dem entsprechen, wo sich Menschen gerne engagieren wollen und
Fähigkeiten dazu haben - was geschieht denn mit den anderen, die nicht
"bereit" sind? Was erhalten die? Bleiben dafür die bislang bekannten bedarfgegrüften Leistungen samt aller Stigmatisierungsfolgen (zur Struktur von Stigmatisierung, siehe hier und hier)? So würde es wohl sein, der Vorrang von Erwerbsarbeit bliebe erhalten, alles anderes wären schöne Freizeitbeschäftigungen. Die Entscheidungmöglichkeiten für den Einzelnen würden dadurch nicht erweitert. Grunert interessiert dieser Zusammenhang offenbar nicht.
Weiter heißt es:
"...Man mag dies für eine völlig unrealistische Utopie halten. Jedoch gibt
es im angloamerikanischen Raum inzwischen eine Reihe von Ökonomen, die
Minsky’s ELR-Idee aufgegriffen und – teilweise unter anderem Namen wie
etwa „job guarantee“ (JG) – weiterentwickelt haben (z. B. Wray 1998 und
2012; Mosler 1997-98; Mitchell 1998; Burgess/Mitchell 1998;
Mitchell/Muysken 2008; Forstater 2003; Fullwiler 2005). Auch positive
praktische Erfahrungen mit (begrenzten) ELR/JG-Programmen in neuerer
Zeit liegen bereits vor, etwa in Argentinien oder Indien.[16]
In jedem Fall erscheint mir eine Diskussion über ELR/JG-Programme weit
fruchtbarer zu sein als etwa die Debatte zum bedingungslosen
Grundeinkommen, die hierzulande eine relativ große Resonanz in den
Medien findet, obgleich die Idee vom Grundeinkommen wohl kaum weniger
„utopisch“ ist als das ELR/JG-Konzept."
Warum aber erscheint ihm die Debatte über eine "job guarantee" fruchtbarer? Welche Möglichkeiten verschafft sie dem Einzelnen, sich den Ort des Wirkens zu suchen oder zu verschaffen, der ihm gemäß wäre und wo er seinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten könnte? Keine. Es bliebe die Hierarchie von Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten erhalten, sie würde sogar verfestigt. Nicht einmal erwägt der Autor die Auswirkungen eines ausreichend hohen BGE auf den Arbeitsmarkt, auf Leistungsmotivation und Arbeitsprozesse und stellt sie dem gegenüber, was ein Mindestlohn leisten könnte. Dass die Bedeutungen von Solidarität in einem Gemeinwesen und ihre Folgen auch für Wertschöpfungsprozesse gemeinhin übersehen werden, überrascht nicht. Es gibt wenige, die diesen Zusammenhang ernst nehmen, also die kulturellen und politische Voraussetzungen von Wirtschaftsprozessen beachten. Dabei würde gerade ein BGE durch den Modus der Bereitstellung, von einzelner Leistung nicht abhängig zu sein, Solidarität stärken und zugleich dazu aufrufen, sich zu fragen, wie der Einzelne beitragen kann. Es würde dabei jedoch freilassen, in welcher Form diese geschähe. So würden Möglichkeiten geschaffen, die heute nicht bestehen.
Sascha Liebermann