1. Oktober 2024

"...muss den Sozialstaat neu aufstellen..."

..."Durch Einwanderung treten neue ideologische Auseinandersetzungen auf den Plan, andere bestanden schon oder werden verstärkt. Wer Ideologie in ihren tödlichen Zuspitzungen wirksam und an der Wurzel bekämpfen will – und ich nenne Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus ganz bewusst in einer Reihe –, muss den Sozialstaat neu aufstellen: weniger Transferleistungen. Mehr gezielte Leistungsanreize und starke öffentliche Institutionen.“ 

Das schreibt Wem Özdemir in seinem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - und man hat den Eindruck, obwohl er damit über das Thema seines Beitrags weit hinausgeht, er greife die Debatte über das Bürgergeld auf, in der wiederholt wilde Behauptungen aufgestellt wurden. Warum stellt er diesen Zusammenhang her, der keineswegs naheliegt.

Jonas Wagner (FAZ) kommentiert das auf Twitter:

Auf diesen Kommentar antwortet Lukas Weber (Bündnis 90/ Die Grünen) mit dem Verweis darauf, es gelte, die soziale Infrastruktur zu stärken:

Doch, was hat das eine mit dem anderen zu tun, worauf Wagner zurecht hinweist? 

Den "Sozialstaat" müsste man, will man die öffentliche Infratstruktur stärken, nicht "neu aufstellen", sondern lediglich verändern. Wenn es nur darum geht, mehr Sprachförderung usw. anzubieten und durchzuführen, bedarf es lediglich der Entscheidung dafür, es zu tun - damit sprengt man nicht den Rahmen des bestehenden Sozialstaats. Warum dann diesen Zusammenhang herstellen, der nicht weiter ausgeführt wird? Berücksichtigt man noch, dass der Vorschlag Ideologien an der Wurzel bekämpfen will, dann ist die Verknüpfung geradezu naiv. Ist der Autor der Auffassung, dass sich Vertreter solcher Ideologien, wie er sie eingeführt hat, durch reduzierte Transferleistungen beeindrucken lassen? Das klingt nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Modell, das aus der sozialpolitischen Debatte allzu geläufig ist. 

Sicher lässt sich manches an der Diskussion über Zuwanderung zu kritisieren, ihre Überhöhung ebenso wie ihre Verharmlosung, doch mit Transferleistungen hat das nichts zu tun. An anderen Stellen im Beitrag wird klarer, worum es Özdemir geht, doch das klärt nicht, weshalb er den Sozialstaat meint neu aufstellen zu müssen, um die von ihm als Problem identifizierten Ideologien zu bekämpfen. Özdemir schreibt im gleichen Absatz:

"Und wer als Migrant erlebt, dass Leistung anerkannt wird und zählt, Chancen ermöglicht werden und umgekehrt bewusste Integrationsverweigerung auch sanktioniert wird, wird verinnerlichen und akzeptieren, dass das Grundgesetz als Leitkultur die richtige und einzige Grundlage unseres Zusammenlebens ist."

Was haben Leistung und Integration miteinander zu tun? Welche Integration (siehe z. B. hier und hier)? 

Zweierlei wird in einen Topf geworfen: 1) Leistungsbereitschaft und die Möglichkeiten, sie zu entfalten. Dass für unser Verständnis von Leistungserbringung Leistungsbereitschaft die Voraussetzung ist, ist zwar trivial, wird aber in seiner Bedeutung häufig unterschätzt. Leistungsbereitschaft ist das Ergebnis eines langen, sozialisatorischen Bildungsprozesses und kann nicht auf anderem Wege herbeigeführt werden. Wer das will, muss sich also die Frage stellen, welche Bedingungen des Aufwachsens benötigen Kinder, damit eine solche Leistungsbereitschaft entstehen kann. Dazu ist es unerlässlich den kindlichen Bildungsprozess in seinen Eigenheiten zu beachten und ihn nicht durch die Brille der Erwachsenen zu betrachten (siehe z. B. hier und hier). Dann bedarf es, ist sie einmal ausgebildet, der Bedingungen, damit sie sich ihren Weg suchen kann im Leben, auch im Berufsleben. Aber: es handelt sich hier immer darum, die Person an der Leistung zu beurteilen, es geht nicht um die Person um ihrer selbst willen, wenn wir über den Beruf sprechen. Eine Integration von Einwanderern bezogen auf dieses Verständnis ist etwas ganz anderes als: 2) Loyalität als Bindung an ein Gemeinwesen und seine von ihm selbst gestaltete Ordnung. Wie in 1) gilt auch hier, dass sich eine solche Bindung für diejenigen, die in Deutschland geboren oder als Kleinkind eingewandert sind, durch den Prozess der Sozialisation herausbilden. Wer einwandert, ist diesbezüglich in einer ganz anderen Situation als derjenige, der hier geboren wird, sofern die Einwanderung nach der Adoleszenz erfolgt. Davon einmal abgesehen geht es im Unterschied zu 1) bei dieser Integration, wenn wir den Begriff beibehalten wollen, um die Integration der Person um ihrer selbst willen, weil sie dem Gemeinwesen angehört. Sie wird nicht an Leistung gemessen, sondern wird - als Staatsbürger - zum Träger der Ordnung. Wer also darauf zielt, muss zum einen Möglichkeiten für eine solche "Verwurzelung", für ein Sesshaftwerden und eine Bindung an das Gemeinwesen schaffen und Zuwanderern den Stellenwert, den das Gemeinwesen hat, vorleben. Grundsätzlich muss er darauf vertrauen, dass jemand der zuwandert, bereit ist, auf dieses Gemeinwesen einzulassen (Böckenförde-Diktum). Zum anderen muss er bereit sein, Verletzungen der Regeln zu sanktionieren, aber erst dann, wenn sie geschehen und nicht präventiv mit dem Verdacht, dass sie ohnehin verletzt werden. Er muss vor allem ein klares Verständnis davon haben, wie zugewandert werden kann und verschiedene Formen klar unterscheiden. Gerade bezüglich dieser Zusammenhänge liegt aber manches im Argen, denn dazu bedarf es einer selbstverständlichen, klaren und gelassenen Bindung an das eigene Gemeinwesen, zu der es auch gehört, wo nötig, Kritik zu üben, Vorschläge zur Verbesserung zu erwägen und sich selbst dafür einzusetzen - und zwar gemäß der Ordnung, wie sie besteht als republikanische Demokratie. Genau diesbezüglich - so meine Einschätzung - liegt aber manches im Argen, man schaue sich nur die Sozialpolitik an, dann erhält man einen Eindruck davon.

Was Özdemir heraushebt ist nun, dass eine Integration im Sinn von 1) zu einer Integration im Sinne von 2) führt, wenn denn nur 1) richtig gelebt wird. Man kann jedoch sehr wohl 1) folgen, ohne sich auf 2) einzulassen. Denn, um im Sinne von 1) erfolgreich zu sein, reicht es aus, 2) als Randbedingung zu tolerieren, ohne sich daran darüber hinaus zu binden. Den Sozialstaat nun dafür zu benutzen, um mittels Sanktionen 2) zu erreichen, wie Özdemir es nahelegt, halte ich für einen Holzweg. Wenn jemand sich gegen diese Ordnung engagiert und die entsprechenden Regeln wiederkehrend verletzt, wird man ihn nicht mit Transferleistungsentzug erreichen. Dann stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Aufenthaltsberechtigung verwirkt werden kann. Für Staatsbürger gilt das hingegen nicht, die muss man aushalten.

Sascha Liebermann