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4. April 2017

"Wir sollten wieder Tagträume im Büro haben" - Über missverstandene Selbstverwirklichung und Muße...

...darüber sprach das Schweizer Fernsehen SRF mit dem Arbeitspsychologen Theo Wehner.

Besonders interessant sind zwei Passagen. Die erste beschäftigt sich mit dem Streben nach Selbstverwirklichung, das heute eine so bedeutende Rolle spiele:

SRF: "Warum überbeanspruchen wir uns so sehr? Die Konsequenz ist ja, dass wir vielleicht irgendwann krank werden."
TW: "Heute haben wir als Ziel, uns in der Arbeit selbst zu verwirklichen. Wenn das jeder macht, frage ich mich wirklich ganz ernsthaft, wie wir dann noch zusammenarbeiten können. Wenn sich jede Medizinerin, jeder Mediziner im OP selbst verwirklichen will, dann möchte ich nicht Patient sein.
Wir haben eine enorme Ich-Orientierung in der Gesellschaft. Gleichzeitig haben wir an den Arbeitsplätzen zunehmend die Notwendigkeit zur Wir-Orientierung. Und das Versprechen zur Selbstverwirklichung kollidiert mit diesen zwei unterschiedlichen Anforderungen.
Von daher sprechen manche sogar von einer interessierten Selbstschädigung. Das ist ein holpriger Begriff, heisst aber: Die Selbstschädigung wird nicht mehr als etwas Gefährliches angesehen, sondern die Überstunden, die ich mache, die Wochenendarbeit, die ich leiste, die doch noch zwei Stunden abends dranhängen, das entspricht meinem Interesse. Dafür nehme ich die Selbstgefährdung in Kauf."

Selbstverwirklichung im eigenen Tun, in der Arbeit ist heute hoch im Kurs und wird nicht selten so verstanden, als könne sie gelingen, ohne sich auf eine Sache, eine Aufgabe, ein Gegenüber einzulassen. Dieses Verständnis von Selbstverwirklichung ist aber eines, das in sich selbst kreist und sich die Welt zu Diensten macht, statt der Welt zu dienen und dadurch Erfahrung zu machen. Wer Erfahrung machen will, muss sich einlassen, er muss zuerst einmal von sich absehen, um sich der Sache bzw. dem Gegenüber zuwenden zu können. Diesen Zusammenhang scheint mir Theo Wehner hier vor Augen zu haben.

Die starke Orientierung am Ich zeigt sich darin, dass Zusammenhänge vergessen werden, die gerade Abhängigkeiten von anderen bezeugen, auf die wir angewiesen sind. Das zeigt sich im schwachen Bewußtsein davon, wie sehr unser Zusammenleben von den schlicht hingenommen Leistungen in Haushalten, den sogenannten Care-Tätigkeiten leben. Ihr Wert wird schnell der angeblich so viel bedeutenderen Wertschöpfung in der Wirtschaft nachgeordnet, obwohl letztere ohne erstere gar nicht existieren würde. In anderen Zusammenhängen zeigt sich das ebenso.

Ich möchte dies an einem Beispiel deutlich machen, dass in Hochschulen und Lebensläufen von Akademikern immer häufiger zu finden ist. In Lebensläufen kann man dann lesen oder es wird einem erzählt, dass jemand "sich" promoviert habe. Er hat sich also den akademischen Grad selbst verliehen. Dazu bedürfte es strenggenommen dann weder einer Dissertation (Qualifikationsschrift) noch einer Disputation (mündliche Verteidigung der Dissertation). Es bedürfte keiner Universität und keines Fachbereichs, der die Dissertation prüfte, wenn doch die Kandidaten "sich" selbst promovierten. Dass selbst unter denjenigen diese Redeweise zur Selbstverständlichkeit geworden ist, die diese institutionalisierten Verfahren durchlaufen haben, ist erstaunlich genug. Das Phänomen bezeugt vor allem, was Theo Wehner oben darlegt, wie sehr das Ich mit seinen Leistungen offenbar im Zentrum der Selbstwahrnehmung steht, auch wenn das der Realität gar nicht entspricht.

An einer weiteren Stelle im Interview heißt es:

SRF: "Sollten wir, wenn wir schon eigenverantwortlicher arbeiten, auch eigenverantwortlicher dafür sorgen, dass die Arbeit uns gut tut?"
TW: "Genau. Die Verantwortung hört nicht da auf, wo ich mein Produkt abgeliefert habe. Die Verantwortung habe ich auch mir gegenüber, das heisst, dass ich diese Arbeit auch noch morgen und übermorgen erbringen könnte. Ich bin unter Umständen selbst der Experte dafür, wie meine Arbeitsbedingungen aussehen sollten. Es gab Zeiten in der Arbeitswelt, in denem man Tagträumen nachgehen konnte. Es gab Zeiten, da hat man Arbeitslieder nicht nur gesungen, sondern man hat sie am Arbeitsplatz komponiert. All das ist subjektiv wichtig. Die Frage ist, ob wir dem auch gerade in modernen Arbeitsplätzen wieder nachgehen könnten."

Diese Passage verstehe ich so, dass es um Mußemomente am Arbeitsplatz geht, was um so bedeutender werden könnten, je stärker zukünftig Problemlösungsfähigkeiten von Mitarbeitern gefordert sein werden, da Routinetätigkeiten auf Automaten übertragen werden können. Aber auch wo das nicht der Fall sein wird, stellt sich die Frage, wie es zu diesen Mußeräumen kommen könnte, ohne sich auf andere verlassen zu müssen, die sie einem einräumen. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen könnte einen erheblichen Beitrag dazu leisten, in mancher Hinsicht "Experte" seiner selbst in Sachen Arbeitsbedingungen zu werden.

Sascha Liebermann

3. Juni 2011

Bürger, Experten, Demokratie - Volksentscheid und Grundeinkommen

Seit dem Sommer 2010 ist von direkter Demokratie wieder mehr die Rede (siehe auch unsere älteren Kommentare hier, hier und hier). In der Sendung "Kontrovers: Atomausstieg - Brauchen wir mehr direkte Demokratie?" des Deutschlandfunks diskutierten Prof. Josef Isensee, Staatsrechtler und Staatsphilosoph (Universität Bonn), Dr. Michael Efler, Vorstandssprecher der Bürgeraktion "Mehr Demokratie" und Ulrich Kelber, stv. Vorsitzender SPD-Bundestagsfraktion.

Viele Argumente, Für und Wider direkte Demokratie, die hier vorgetragen wurden, werden beinahe genauso in der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen vorgebracht. Das ist auch der Grund, weshalb wir auf die Sendung hinweisen. Zwei Aspekte der Diskussion seien hier herausgegriffen, die mir besonders wichtig erscheinen.

Experten und Bürger
Bürger seien nicht Experten genug, um bei Entscheidungen heute vernünftig und sachverständig mitreden zu können - ein häufig vorgebrachter Einwand. Weil, so Professor Isensee, Entscheidungen heute derart komplex geworden seien, auch angesichts transnationaler Verpflichtungen, könne selbst ein sich gut informierender Bürger die Tragweite von Entscheidungen nicht mehr ermessen und gewichten. Was müsste das in letzter Konsequenz heißen? Dass auch die Repräsentanten in unseren Parlamenten im Grunde nicht sachverständig genug sind, um solche Entscheidungen treffen zu können, denn die wenigsten sind auf dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu jeweils virulenten Fragen. Das können auch ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht auffangen. Ist dies aber überhaupt ein relevantes Kriterium für politische Entscheidungen und ist denn Sachverstand so sicher, wie es behauptet wird?

In der Tat sind Entscheidungen heute komplex, ob sie aber so viel komplexer sind, dass dieser Einwand nicht immer schon gegolten haben müsste, kann bezweifelt werden, denn Komplexität ist relativ - was uns heute selbstverständlich erscheint, wäre für vorangehende Generationen komplex gewesen, denken wir nur an die Nutzung von Technologien wie den Computer. Niemand würde heute mehr bezweifeln, dass Sachverstand von Experten (gemeint ist: wissenschaftliche Expertise) unerlässlich ist, um mögliche Folgen von Entscheidungen auszuloten. Deshalb sind auch öffentliche Debatten im Vorlauf zu solchen Entscheidungen für eine Demokratie so wichtig, denn sie erlauben es den Bürgern, sich ein Urteil zu Sachfragen zu bilden, sofern Meinungsvielfalt gegeben ist. Weil aber auch Experten sich in der Einschätzung von Folgen eines Handelns nicht einig und ihre Einschätzungen wiederum Gegenstand wissenschaftlichen Streits sind, ist von ihnen auch keine eindeutige Antwort in solchen Fragen zu erwarten.

Bedeutsamer noch als dieser Aspekt ist allerdings ein anderer. Entscheidungen müssen immer verantwortet, sie müssen mit ihren Folgen getragen werden. Das ist keine Frage des Sachverstands, sondern eine von praktischen Überzeugungen, von einem Wollen und dem Vertrauen darein, für aus Entscheidungen folgende Probleme Lösungen finden zu können. Es gibt nur eine Instanz, die in einer Demokratie darüber entscheiden kann, ob sie diese Verantwortung tragen will: die Bürger. So wichtig sachverständige Experten sind, so wichtig eine Debatte vor Entscheidungen ist, um mögliche Folgen auszuloten, so wichtig ist es auch, dass in Entscheidungsfragen die Bürger das letzte Wort haben, sei es direkt, sei es indirekt über das Parlament. Experten sind nicht, auch wenn manche das meinen, mündigere Bürger.

Überschaubare und unüberschaubare Gemeinwesen
Die schlichte Größe eines Gemeinwesens, so wurde auch in dieser Radiosendung von einem Hörer eingewandt, mache direkte Demokratie in Deutschland unmöglich, mache sie zu einem unvernünftigen Vorhaben. Zwar könne in der "kleinen" Schweiz ein solches Verfahren sehr wohl funktionieren, in Deutschland aber nicht. Warum aber in der Schweiz, die mit beinahe 8 Millionen Einwohnern genauso wenig überschaubar ist wie Deutschland? Auch in der Schweiz kennen sich die wenigsten persönlich oder sind miteinander verwandt. Der Einwand könnte allenfalls verfangen, wenn er sich auf den Unterschied zwischen Gemeinden mit sagen wir 500 Einwohnern und solchen darüber bezöge. Das tut er aber nicht. Wovon zeugt der Einwand dann?

Offenbar unterliegt ihm ein diffuses Empfinden darüber, dass in einem Land, in dem die meisten Bürger sich nicht persönlich kennen oder wenigstens miteinander über mehrere Ecken verwandt sind, der Zusammenhalt, die Solidarität, instabil sein muss. Die Bürger, das wäre zu schlußfolgern, fühlen sich dem Gemeinwohl nicht so stark verbunden und nehmen Verantwortung nicht ernst genug, so dass Entscheidungen fahrlässig getroffen werden. Letztlich gibt sich in diesen Einwand eine eher traditionale Vorstellung von Gemeinwesen, von Solidarität und Zusammenhalt zu erkennen, derzufolge eine politische Ordnung nur dann von Bestand sein kann, wenn es eine irgendwie persönliche Verbindung zwischen den Bürgern gibt, so wie es in sehr kleinen ländlichen Gemeinden der Fall ist. Solidarität aber bzw. das sie tragende gemeinschaftliche Band ist in Staaten etwas sehr abstraktes, ob in der Schweiz oder in Deutschland. Gestiftet wird es über die lebenspraktische Verankerung eines Bürgerbewusstseins, das sich in staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ausdrückt. Dass es an diesem Bewusstsein mangelt und daher womöglich auch die Einschätzung rührt, direkte Demokratie könne in Deutschland nicht funktionieren, ist gerade kein Einwand gegen, sondern eher ein Argument für direkte Demokratie.

In einer Diskussion jüngst mit Axel Gerntke (IG Metall) war genau das fehlende Bewusstsein davon, eine Gemeinschaft von Bürgern zu sein, die sich als Bürger auf gleicher Augenhöhe begegnen, irritierend. Wer "gesellschaftliche Gruppen", wie Gerntke es tat, zu den eigentlichen Trägern des Gemeinwesens erhebt und in Bürgern nur vereinzelte Individualisten sieht, die keine Gemeinwohlbindung haben, dem kann die Vorstellung einer Gemeinschaft von Bürgern als Fundament der Demokratie nur fremd, zumindest aber befremdlich sein - ganz wie dem Hörer des Deutschlandfunks. Wo keine Bürgergemeinschaft denkbar ist, kann auch die zentrale Stellung der Erwerbstätigkeit nicht verlassen werden, denn aus Gerntkes Sicht ist sie das einzige Band, das alle vereint. Weil das so ist, müssen auch alle an ihr beteiligt werden - durch Arbeitszeitverkürzung. Eine allerdings nicht freiwillige Beteiligung, denn wenn Erwerbstätigkeit das einzige verlässliche Band stiftet, muss sie verpflichtend sein.

Wer an diesem Zustand oder besser: demokratischen Missstand etwas ändern will und das tatsächliche, in der polititschen Ordnung zum Ausdruck kommende Fundament unserer Demokratie: die Bürger, stärken will, der kommt nicht umhin, über Direkte Demokratie und bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken. Beide würden, ohne inhaltliche Direktive, für jeden die Verantwortung der Staatsbürger und ihr unerlässliches solidarisches Band auf einfache Weise erfahrbar machen und so genau das Bürgerbewusstsein befördern, an dem es heute fehlt.

Sascha Liebermann