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23. November 2020

Grüninterner Disput über Ablehnung von Volksentscheiden - fast wie beim Grundeinkommen...

...dazu hatte sich Bütikofer einst geäußert vergleichbar der Ablehnung, die er heute kritisiert, siehe hier. Wie Özdemir und Trittin zum Grundeinkommen bislang standen finden Sie hier und hier.

Sascha Liebermann

Die Grünen streichen Volksentscheide aus ihrem Grundsatzprogramm

30. Oktober 2019

"Expedition Grundeinkommen" - wo beginnt direkte Demokratie?

Diese Frage stellt sich angesichts der neuen Initiative "Expedition Grundeinkommen", die Volksentscheide bzw. -abstimmungen in mehreren Bundesländern anstrebt, um so Grundeinkommensexperimente auf "staatlicher Ebene" auf den Weg zu bringen. Dazu heißt es auf der Website:

"Unser Reiseplan

Im Oktober haben wir mit einer Petition auf change.org gestartet, die knapp 20.000 Menschen mitgezeichnet haben. In den kommenden Monaten werden wir in mehreren Bundesländern mit euch zusammen Volksabstimmungen starten."

Sicher, für jeden, der sich für ein Bedingungsloses Grundeinkommen engagiert, stellt sich die Frage wie es weitergeht, wann denn womöglich eine Einführung näher rückt. Dabei ist in den letzten Jahren viel passiert. Vielleicht kann eine solche Kampagne dazu beitragen, dass es einen Schritt weiter geht, vielleicht aber auch genau nicht.

Volksentscheide bzw. -abstimmungen auf Landesebene sollten, wie jedes politische Vorhaben, dort verwurzelt sein, wo die Bürger leben - also im jeweiligen Bundesland. Erst dann ist es ihr Anliegen. Genau so ist es in der Schweiz, die ja häufig als Vorbild herangezogen wird (siehe unsere Beiträge zu  direkter Demokratie). "Expedition Grundeinkommen" sitzt jedoch in Berlin und lässt nicht erkennen, dass dort nur die Pressestelle für die in den Bundesländern entstandenen Aktivitäten ist.

Eine andere Frage ist, was man von Feldexperimenten erwarten kann? Meines Erachtens nicht allzuviel, vor allem nicht die entscheidenden Einsichten, die dann einer allgemeinen Einführung den Weg bahnen könnten. Wir haben uns zu den methodischen Grenzen solcher Feldexperimente, die auch Grenzen des Erkenntnisgewinns sind, wiederholt geäußert. Noch schwerwiegender sind politisch-legitimatorische Einwände gegen solche Versuche, denn sie laufen auf Bürgereignungstests bzw. -mündigkeitsprüfungen hinaus.

Sascha Liebermann

28. September 2017

Volksabstimmungen - Segen oder zweifelhaft? Weder noch, bloß bodenständig

Demokratische Instrumente können missbraucht werden - können sie?

Niemand würde wohl bestreiten, dass es einseitige Berichterstattung, Parteinahme, voreingenommene Journalisten und ähnliches gibt. Gerade in den Wochen vor der Bundestagswahl konnte man beobachten, wie stark Moderatoren in Diskussionssendungen teils volkspädagogisch eingriffen. Diese Vorgänge kann man kritisieren, beklagen, bedauern, sich für Veränderungen einsetzen. Sie sind nicht gerade pluralitätsfördernd, doch sind sie schon eine Gefahr?

Sicher, sich über Sachfragen zu informieren ist durchaus aufwendig, es braucht Zeit, in vielen Fragen fehlt einem der Sachverstand, um die Zusammenhänge beurteilen zu können. Das ist richtig. Geht das Experten aber nicht ebenso außerhalb des Gebiets ihrer Expertise? Die jüngste Ablehnung einer Rentenreform in der Schweiz wird nun wieder einmal als Beispiel dafür angeführt, weshalb Volksabstimmungen doch eine zweifelhafte Angelegenheit sind. Zu diesem Schluss gelangt Albrecht Müller (Nachdenkseiten), kritischer Geist gegen voreingenommene Meinungsbildung. Seine Vorbehalte äußert er nicht das erste Mal. Was schreibt er genau?

"Die Möglichkeit, Volksentscheide zu beantragen, würde mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer Belebung der öffentlichen Debatte in Deutschland beitragen. Aber ob dabei fortschrittliche, sachlich gerechte und der Mehrheit der Menschen dienende Lösungen herauskommen, ist fraglich und wird quasi jeden Tag fraglicher – je mehr unsere Medien nämlich in den Einflussbereich von großen Interessen geraten. Medien und die hinter ihnen steckenden Interessen können, wie man an der Schweiz im konkreten Fall sieht, auch Volksentscheide zu beeinflussen versuchen und dies mit Erfolg tun."

Zuerst einmal kann er Volksentscheiden (in der Schweiz sind es "Volksabstimmungen") etwas abgewinnen. Aber, aber - dann kommt seine Sorge, was dabei wohl für Entscheidungen herauskommen? Müsste er diese Sorge nicht gegen die parlamentarische Demokratie in Deutschland ebenso richten? Sie hat ja nun gerade etliche Entscheidungen hervorgebracht, mit denen Müller nicht einverstanden ist. Er verweist auf den zunehmenden Einfluss bestimmter Interessenlagen auf die Medien und deren Berichterstattung. Wie weit aber reicht dieser Einfluss, gar soweit, Wahlergebnisse zu seinen Gunsten richten zu können? Behauptet ist das schnell, aber wie sieht es mit Belegen aus? Der Wunsch, Einfluss zu nehmen und gewünschte Ergebnisse zu erzielen ist das eine, wie die Bürger abstimmen das andere. Müller verweist auf einen Artikel über die Bemühungen der Schweizer SVP, die Abstimmung über die Rentenreform in ihrem Sinne zu beeinflussen. In dem Artikel, auf den er sich beruft, ist davon die Rede, dass die SVP die Schweizer Stimmbürger "verführte". Zu einer Verführung gehören aber immer zwei Seiten, die einen, die verführen wollen, die anderen, die sich verführen lassen. Beachtet man das nicht wird daraus schnell eine entmündigende Behauptung. In der Schweiz gibt es zu jeder Volksabstimmung ein Argumentarium, das Pro- und Contra-Positionen aufführt. Die Berichterstattung in den Medien ist umfangreich. Gerade die SVP ist nun des öfteren schon mit ihren Vorhaben gescheitert. Warum erwähnt Müller das nicht? Und selbst wenn Volksabstimmungen unliebsame Ergebnisse haben, dann sind es Ergebnisse, von denen man genau weiß, dass es für sie tatsächlich Mehrheiten gab. Das ist eine gute Basis für Auseinandersetzungen. In repräsentativ geprägten Systemen bleiben zwischen den Wahlen nur die Umfagen der Demoskopen, auf die man sich berufen kann. Das sind aber keine Abstimmungen, Befragungen sind folgenlos, der Befragte hat für seine Antwort praktisch nicht die Verantwortung zu übernehmen (siehe hier). Was schreibt Müller noch?

"An diesen Beobachtungen und Erkenntnissen sollte man nicht vorübergehen, wenn man den durchaus demokratisch klingenden Vorschlag für mehr Volksentscheide vertritt. Das neueste Beispiel aus der Schweiz zeigt, dass die vierte Beobachtung in der Realität belegt wird. Die rechtsnationale SVP kann offenbar viel Geld und viel publizistische Macht mobilisieren. Bei uns wäre das in ähnlich gelagerten Fällen einer Abstimmung durchaus auch ähnlich. Der Volksentscheid kann sehr schnell zum Einfallstor der recht bequemen Durchsetzung der Interessen publizistisch mächtiger und reicher Gruppen und Personen werden. Das ist der eigentliche Grund für meine Skepsis."

Ja, kann sie, sie kann zum Einfallstor werden. Volksabstimmungen sind kein Automatismus, sie leben vom Bürgerethos, die Bürger müssen sie selbst ernst nehmen. Das gilt für eine repräsentative Demokratie allerdings genauso, auch sie kommt ohne das Bürgerethos nicht aus. In Deutschland ist die Haltung zur Demokratie eben auch ambivalent, auf der einen Seite wird den Bürger viel zugetraut, auf der anderen Seite wenig.

Skepsis, so wie Müller, kann man haben, sollte sich aber doch genau anschauen, was in der Schweiz passiert. Und ist es nicht so, dass der von Müller befürchtete Fall immer eintreten kann, vor allem dann, wenn die Bürger willfährig einer Kampagne folgen? Doch tun sie das? Unterschätzt Müller womöglich nicht die Eigensinnigkeit des täglichen Lebens? Wie würde er die AfD-Erfolge in Deutschland erklären? Was wäre wohl passiert, wenn es eine Volksabstimmung zu den Fragen gegeben hätte, die die Wähler der AfD - und sicher auch andere - umtreiben? Wäre dann womöglich nicht schon viel früher darauf reagiert worden? Würde die AfD dann überhaupt soweit gekommen sein? Man darf nicht vergessen, dass die Sprache mancher in der AfD, die so heftig in den Medien kritisiert wurde, doch eine Sprache ist, die in der Diskussion um Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in vielleicht milderer Form ebenso anzutreffen ist. Wenn die Bürger zum Objekt werden, zu einer Sache, die man hin- und herschieben will durch "Aktivierung" und "Sanktionen", die "Druck" benötigen oder einen "Arschtritt" (Christian Lindner, FDP). Was ist das für eine Haltung, wenn eine Bundesministerin Fraktionsvorsitzende wird und der Regierung ankündigt, dass sie "ab morgen [...] in die Fresse] kriegen"?

Worin "sachlich gerechte" Entscheidungen bestehen und was "der Mehrheit dienende Lösungen" sind, ist nicht abstrakt zu sagen. Entscheidungen müssen gewollt werden, Argumente reichen dafür nicht aus. Entscheidungen haben mit tief verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen zu tun. Ganz gleich, welches Ergebnis eine Volksabstimmung bringt, sie ist zugleich der Auftrag, sich mit ihren Folgen auseinanderzusetzen, und zwar sehr konkret. Das macht Demokratie greifbarer, sie rückt näher an die Bürger heran. Damit sind repräsentative Elemente nicht getilgt, aber relativiert.

Die Vorbehalte gegen direkte Demokratie sind doch sehr ähnlich wie diejenigen gegen das BGE. Es geht offenbar um eine ganz grundsätzliche Frage, welche Stellung man den Bürgern als Trägern der politischen Ordnung einräumt und wie sehr man bereit ist, auf die Verantwortungsbereitschaft dafür zu setzen, dass sich eine für alle tragbare Lösung für Probleme finden wird. BGE und direkte Demokratie gehen in den Augen mancher hier sehr weit. Doch ein Blick auf die Grundfesten der Demokratie zeigt, dass dies nur konsequent wäre, statt in alten Vorbehalten zu verharren (Siehe auch hier)

Sascha Liebermann

2. November 2016

"Volksabstimmungen für alle"...

...eine Diskussionsrunde bei hart aber fair mit einer irreführenden Ankündigung.

Auf der Website der Sendung finden sich informative Hinweise. Deutlich machen sie, sehr klar ist das auf der Seite der Schweizer Bundesverwaltung, dass repräsentative und direkt Demokratie nicht gegeneinanderstehen, wie so oft suggeriert wird. Auch sind Volksabstimmungen nicht einfach JA-NEIN-Entscheidungen, sondern Entscheidungen über einen formulierten Vorschlag, der abgelehnt oder dem zugestimmt wird. Bei Zustimmung sind Regierung und Parlament mit der Umsetzung beauftragt. In der Schweiz werden die meisten Gesetze vom Parlament erlassen und nicht über Volksabstimmungen auf den Weg gebracht. Die Schweizer können aber gegen Parlaments- Kantons- und Gemeindeentscheidungen Referendum ergreifen. 

Mehr Demokratie e.V. hat eine Übersicht zur Haltung der deutschen Parteien zur Volksabstimmung auf Bundesebene angefertigt und zugleich nachgefragt, wie sie dazu stehen. Die Antworten sind interessant und vielschichtig. Die meisten, bis auf die CDU, befürworten Volksabstimmungen in der einen oder anderen Form.
 Auf die überraschenden Positionsverschiebungen im Verhältnis zu früheren Diskussionen über Volksabstimmungen hat Frank Lübberding in seinem Kommentar zur Sendung hingewiesen.

Sascha Liebermann

3. Juni 2011

Bürger, Experten, Demokratie - Volksentscheid und Grundeinkommen

Seit dem Sommer 2010 ist von direkter Demokratie wieder mehr die Rede (siehe auch unsere älteren Kommentare hier, hier und hier). In der Sendung "Kontrovers: Atomausstieg - Brauchen wir mehr direkte Demokratie?" des Deutschlandfunks diskutierten Prof. Josef Isensee, Staatsrechtler und Staatsphilosoph (Universität Bonn), Dr. Michael Efler, Vorstandssprecher der Bürgeraktion "Mehr Demokratie" und Ulrich Kelber, stv. Vorsitzender SPD-Bundestagsfraktion.

Viele Argumente, Für und Wider direkte Demokratie, die hier vorgetragen wurden, werden beinahe genauso in der Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen vorgebracht. Das ist auch der Grund, weshalb wir auf die Sendung hinweisen. Zwei Aspekte der Diskussion seien hier herausgegriffen, die mir besonders wichtig erscheinen.

Experten und Bürger
Bürger seien nicht Experten genug, um bei Entscheidungen heute vernünftig und sachverständig mitreden zu können - ein häufig vorgebrachter Einwand. Weil, so Professor Isensee, Entscheidungen heute derart komplex geworden seien, auch angesichts transnationaler Verpflichtungen, könne selbst ein sich gut informierender Bürger die Tragweite von Entscheidungen nicht mehr ermessen und gewichten. Was müsste das in letzter Konsequenz heißen? Dass auch die Repräsentanten in unseren Parlamenten im Grunde nicht sachverständig genug sind, um solche Entscheidungen treffen zu können, denn die wenigsten sind auf dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion zu jeweils virulenten Fragen. Das können auch ihre wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht auffangen. Ist dies aber überhaupt ein relevantes Kriterium für politische Entscheidungen und ist denn Sachverstand so sicher, wie es behauptet wird?

In der Tat sind Entscheidungen heute komplex, ob sie aber so viel komplexer sind, dass dieser Einwand nicht immer schon gegolten haben müsste, kann bezweifelt werden, denn Komplexität ist relativ - was uns heute selbstverständlich erscheint, wäre für vorangehende Generationen komplex gewesen, denken wir nur an die Nutzung von Technologien wie den Computer. Niemand würde heute mehr bezweifeln, dass Sachverstand von Experten (gemeint ist: wissenschaftliche Expertise) unerlässlich ist, um mögliche Folgen von Entscheidungen auszuloten. Deshalb sind auch öffentliche Debatten im Vorlauf zu solchen Entscheidungen für eine Demokratie so wichtig, denn sie erlauben es den Bürgern, sich ein Urteil zu Sachfragen zu bilden, sofern Meinungsvielfalt gegeben ist. Weil aber auch Experten sich in der Einschätzung von Folgen eines Handelns nicht einig und ihre Einschätzungen wiederum Gegenstand wissenschaftlichen Streits sind, ist von ihnen auch keine eindeutige Antwort in solchen Fragen zu erwarten.

Bedeutsamer noch als dieser Aspekt ist allerdings ein anderer. Entscheidungen müssen immer verantwortet, sie müssen mit ihren Folgen getragen werden. Das ist keine Frage des Sachverstands, sondern eine von praktischen Überzeugungen, von einem Wollen und dem Vertrauen darein, für aus Entscheidungen folgende Probleme Lösungen finden zu können. Es gibt nur eine Instanz, die in einer Demokratie darüber entscheiden kann, ob sie diese Verantwortung tragen will: die Bürger. So wichtig sachverständige Experten sind, so wichtig eine Debatte vor Entscheidungen ist, um mögliche Folgen auszuloten, so wichtig ist es auch, dass in Entscheidungsfragen die Bürger das letzte Wort haben, sei es direkt, sei es indirekt über das Parlament. Experten sind nicht, auch wenn manche das meinen, mündigere Bürger.

Überschaubare und unüberschaubare Gemeinwesen
Die schlichte Größe eines Gemeinwesens, so wurde auch in dieser Radiosendung von einem Hörer eingewandt, mache direkte Demokratie in Deutschland unmöglich, mache sie zu einem unvernünftigen Vorhaben. Zwar könne in der "kleinen" Schweiz ein solches Verfahren sehr wohl funktionieren, in Deutschland aber nicht. Warum aber in der Schweiz, die mit beinahe 8 Millionen Einwohnern genauso wenig überschaubar ist wie Deutschland? Auch in der Schweiz kennen sich die wenigsten persönlich oder sind miteinander verwandt. Der Einwand könnte allenfalls verfangen, wenn er sich auf den Unterschied zwischen Gemeinden mit sagen wir 500 Einwohnern und solchen darüber bezöge. Das tut er aber nicht. Wovon zeugt der Einwand dann?

Offenbar unterliegt ihm ein diffuses Empfinden darüber, dass in einem Land, in dem die meisten Bürger sich nicht persönlich kennen oder wenigstens miteinander über mehrere Ecken verwandt sind, der Zusammenhalt, die Solidarität, instabil sein muss. Die Bürger, das wäre zu schlußfolgern, fühlen sich dem Gemeinwohl nicht so stark verbunden und nehmen Verantwortung nicht ernst genug, so dass Entscheidungen fahrlässig getroffen werden. Letztlich gibt sich in diesen Einwand eine eher traditionale Vorstellung von Gemeinwesen, von Solidarität und Zusammenhalt zu erkennen, derzufolge eine politische Ordnung nur dann von Bestand sein kann, wenn es eine irgendwie persönliche Verbindung zwischen den Bürgern gibt, so wie es in sehr kleinen ländlichen Gemeinden der Fall ist. Solidarität aber bzw. das sie tragende gemeinschaftliche Band ist in Staaten etwas sehr abstraktes, ob in der Schweiz oder in Deutschland. Gestiftet wird es über die lebenspraktische Verankerung eines Bürgerbewusstseins, das sich in staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ausdrückt. Dass es an diesem Bewusstsein mangelt und daher womöglich auch die Einschätzung rührt, direkte Demokratie könne in Deutschland nicht funktionieren, ist gerade kein Einwand gegen, sondern eher ein Argument für direkte Demokratie.

In einer Diskussion jüngst mit Axel Gerntke (IG Metall) war genau das fehlende Bewusstsein davon, eine Gemeinschaft von Bürgern zu sein, die sich als Bürger auf gleicher Augenhöhe begegnen, irritierend. Wer "gesellschaftliche Gruppen", wie Gerntke es tat, zu den eigentlichen Trägern des Gemeinwesens erhebt und in Bürgern nur vereinzelte Individualisten sieht, die keine Gemeinwohlbindung haben, dem kann die Vorstellung einer Gemeinschaft von Bürgern als Fundament der Demokratie nur fremd, zumindest aber befremdlich sein - ganz wie dem Hörer des Deutschlandfunks. Wo keine Bürgergemeinschaft denkbar ist, kann auch die zentrale Stellung der Erwerbstätigkeit nicht verlassen werden, denn aus Gerntkes Sicht ist sie das einzige Band, das alle vereint. Weil das so ist, müssen auch alle an ihr beteiligt werden - durch Arbeitszeitverkürzung. Eine allerdings nicht freiwillige Beteiligung, denn wenn Erwerbstätigkeit das einzige verlässliche Band stiftet, muss sie verpflichtend sein.

Wer an diesem Zustand oder besser: demokratischen Missstand etwas ändern will und das tatsächliche, in der polititschen Ordnung zum Ausdruck kommende Fundament unserer Demokratie: die Bürger, stärken will, der kommt nicht umhin, über Direkte Demokratie und bedingungsloses Grundeinkommen nachzudenken. Beide würden, ohne inhaltliche Direktive, für jeden die Verantwortung der Staatsbürger und ihr unerlässliches solidarisches Band auf einfache Weise erfahrbar machen und so genau das Bürgerbewusstsein befördern, an dem es heute fehlt.

Sascha Liebermann

6. August 2010

"Volksentscheide auf Bundesebene – mehr Demokratie wagen?"

So lautete ein Beitrag im ARD-Magazin Kontraste, dass sich mit dem Volksentscheid beschäftigte. Die Einwände dagegen, hier verkörpert durch einen CDU-Politiker, entsprechen in mancher Hinsicht denjenigen gegen ein bedingungsloses Grundeinkommen. Sehen Sie selbst.

Frühere Kommentare von uns zu diesem Thema - hier und hier.

20. Juli 2010

Wieder einmal: Volksentscheid am Pranger

Nach der Hamburger Entscheidung zur Primarschule wird wieder Gericht über den Volksentscheid gehalten. Es wäre zwar auch interessant, sich mit den Argumenten von Gegnern und Befürwortern der Primarschule auseinanderzusetzen, dem gilt aber hier nicht unsere Aufmerksamkeit. Wer sich für unsere Ansichten zu Bildung interessiert, sei auf den Text "Erfahrung ermöglichen oder Wissen vermitteln?" verwiesen.

Will man etwas über das Demokratieverständnis erfahren, das in der Öffentlichkeit herrscht, sollte man diese Artikel als Dokumente lesen. Es ist erstaunlich, was dort in den Volksentscheid hineininterpretiert wird, es ist ebenso erstaunlich, wie wenig Vertrauen in die Bürger herrscht, Entscheidungen womöglich zu revidieren. Ein Volksentscheid schafft zwar einen Beschluss, er zementiert aber nicht Verhältnisse auf ewig. Die Entscheide müssen (zumindest in der Schweiz) auch mit der Verfassung in Einklang stehen, andernfalls können sie nicht umgesetzt werden. Es ist also keinesfalls so, dass damit aufgehoben werden kann, wozu sich ein Gemeinwesen qua Verfassung bekennt, z.B. die Menschenrechte. Gegen ihn kann wiederum für bessere Vorschläge geworben werden. Nicht von ungefähr wird in einigen Artikeln auf die Entscheidung der Schweizer zum Minarettverbot Bezug genommen. Gerade diese Entscheidung allerdings zeigt sehr deutlich, welche Chancen der Volksentscheid birgt: er schafft eine Entscheidung, über die öffentlich gestritten werden kann, eine wirkliche Entscheidung und nicht etwa nichtsnutzige Umfrageergebnisse.

Siehe auch unseren früheren Kommentar

Eine Auswahl der Kommentare:

Süddeutsche Zeitung
Frankfurter Rundschau
Die Zeit
TAZ
Nachdenkseiten (Punkt 1 bis 3)

In der Münchner Runde wurde darüber jüngst auch diskutiert. Hier geht es zum Podcast