20. Dezember 2025

"Jobsuche im Bürgergeld"...

 ...eine Studie der BertelsmannStiftung (hier die ausführliche PDF-Fassung), die Einblicke in die Lebenslagen von Leistungsbeziehern, das Verhalten der Jobcenter und die Hürden zur Arbeitsaufnahme  gibt. 

Man sollte sich nicht von der Betitelung auf der Website zur Studie beeindrucken lassen, dass 57% der Bürgergeldbezieher nicht nach Arbeit suchen, denn die Detailbefunde sind differenzierter, in der PDF-Version ist hier die Zusammenfassung ab S. 34 hilfreich. Schwer nachvollziehbar ist, weshalb die 57% herausgestellt werden, wenn bei näherer Betrachtung diese Gruppe weiter differenziert werden muss und die Problemlagen komplexer sind, als es diese Betitelung erkennen lässt.

Besonders ärgerlich ist aus methodischer Sicht, dass zwar von einem "Mixed Methods"-Ansatz die Rede ist, standardisierte (quantitative) und nicht-standardisierte (qualitative) Methoden genutzt wurden, doch gerade bezüglich letzter erfährt man lediglich etwas über die Datenerhebung, nicht aber über die Datenauswertung. Es ist leider ein Missstand, dass unter der Nutzung "qualitativer Methoden" die unterschiedlichsten Dinge verstanden werden und nicht selten alleine schon die Datenerhebung ausreicht, damit eine Studie als qualitativ gilt, auch wenn keine methodisch-disziplinierte Auswertung vorgenommen wurde.

In der Studie selbst werden zwar Ausschnitte aus den Forschungsgesprächen zitiert, doch werden diese Stellen eher umschreibend wiedergegeben, nicht aber analysiert. Wer ein wenig vertraut ist mit dem Methodenrepertoire nicht-standardisierter Verfahren und den entsprechenden Debatten weiß, dass es auf die methodisch-disziplinierte Auswertung ankommt und die Erhebung alleine lediglich Material hervorbringt. Auch wenn gerade im Methodenteil der eigene Charakter von "Tiefeninterviews" hervorgehoben wird, bleibt das Auswertungsvorgehen im Dunkeln.

Zum für die Grundlagenforschung elementaren Charakter nicht-standardisierter Methoden siehe diesen älteren Beitrag Ulrich Oevermanns. Zur Objektiven Hermeneutik als elaborierter Methodologie und Kunstlehre, siehe diesen Beitrag Oevermanns. Dieses "Arbeitsbuch" von Aglaja Przyborski und Monika Wohlrab-Sahr gibt einen Einblick in die Methodendiskussion in der "Qualitativen Sozialforschung". 

Beiträge von unserer Seite zur Methodenfrage in der Forschung zum BGE siehe hier und hier, von Ute Fischer und Sascha Liebermann jüngst auch hier (open access).

Sascha Liebermann

19. Dezember 2025

Michael Opielka zur "neuen Grundsicherung"

14. Dezember 2025

Schlagzeile oder Haupttext...

..., was ist maßgeblich für den Merkur aus Bayern, der einen Beitrag über "Bürgergeld-Empfänger" und deren Engagement in der RTL Sendung "Armes Deutschland" veröffentlicht hat? 

Wer den reißerischen Titel liest "Bürgergeld-Empfängerin trickst Jobcenter aus und RTL verdient Millionen", erwartet in der Folge die üblichen, Vorurteile pflegenden Ausführungen, die in den letzten Jahren oft gelesen werden konnten. Je länger man liest, desto weniger ist das der Fall. Warum aber dann ein solcher Titel statt sachlich zu berichten?

Nachdem die skandalisierenden Zitate aufgeführt werden, folgt eine Einordnung:

"Solche Zitate werden als repräsentativ für alle Bürgergeld-Empfänger inszeniert. Die Zahlen sprechen anders: 2023 wurden laut Bundesagentur für Arbeit rund 16.000 Menschen sanktioniert, weil sie Arbeit verweigerten. Das sind 0,4 Prozent – weniger als ein fast leerer Gästeblock im Stadion."

Damit ist die Schlagzeile sowie der Anfang des Beitrags ad absurdum geführt, man hat fast den Eindruck der Beitrag verfolgt aufklärerische Absichten, indem er zuerst einmal Klischees bedient. Dann folgt:

"Während Dennis und Carsten als „faule Arbeitslose“ durch die Medien gehen, zeigen die offiziellen Daten ein völlig anderes Bild: 2024 gab es 101.603 Verdachtsfälle von Leistungsmissbrauch – bei 5,5 Millionen Leistungsberechtigten. Die echte Missbrauchsquote liegt damit unter 3 Prozent, über 97 Prozent verhalten sich regelkonform. Von organisierter Kriminalität kann keine Rede sein: 2023 wurden gerade mal 421 solcher Fälle registriert – keine flächendeckenden „mafiösen Strukturen“. Zum Vergleich: Die Fehlerquote der Jobcenter selbst liegt bei bestimmten Prüfungen bei bis zu 39 Prozent. Die Ämter machen mehr Fehler als Empfänger betrügen."

So ist es den bekannten Daten zufolge, die wiederholt vorgetragen wurden. Die Verschärfungen ab 2026 entbehren also jeglicher Grundlage und sind nur alter Wein in neuen Schläuchen. Was wird das bringen? Statt über eine grundlegende Umgestaltung der Existenzsicherung und darüber hinausgehender Leistungen nachzudenken, bleibt die Refom im Morast der Vorurteile stecken - und führt nicht weiter.

Siehe unsere früheren Beiträge zu dieser Diskussion hier.

Sascha Liebermann

9. Dezember 2025

"Grundeinkommen - ein Kulturimpuls" - ein älterer Film, in der Sache nicht alt geworden...

...ganz besonders in den Interviews, die geführt wurden und all die Widersprüche freilegen, mit denen soziale Wirklichkeit gedeutet wird.

2. Dezember 2025

"DIFIS-Studie 2025/9 Ein integriertes Steuer- und Sozialtransfersystem"

27. November 2025

"Schaffen Sie den Bürgergeldantrag auf Anhieb?"

Die Zeit bietet die Gelegenheit an, sich selbst zu prüfen, wie weit man mit der Ausfüllung des Antrags kommt, siehe hier. Immer wieder ist darauf hingewiesen worden, wie kompliziert die Beantragung ist, hier nun können sich auch diejenigen einen Eindruck verschaffen, die damit sonst nicht zu tun hätten oder die noch nicht von sanktionsfrei gehört haben, deren Berichte aus der Welt des Bürgergeldes eindrucksvoll sind.

Die Hürden durch das Antragswesen sind hoch, ganz besonders für diejenigen, denen es ohnehin nicht leichtfällt, ihre Interessen wahrzunehmen. Andere aber schrecken vor der Stigmatisierung zurück, verzichten lieber, als ihr Recht wahrzunehmen - eine Stigmatisierung, die mit dem normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit zu tun hat und der damit verknüpften ideologisierten Vorstellung von "Selbstversorgung" oder "Eigenständigkeit". Ein Sozialstaat, der aufgrund dieser strukturellen Eigenheiten, "verdeckte Armut" in Kauf nimmt, dem fehlt es daran die Existenzsicherung verlässlich bereitzustellen, er ist nicht "zielgenau", seine Legitimität wird dadurch fraglich.

Sascha Liebermann

13. November 2025

"Voller Illusionen" - Referentenentwurf zur "neuen Grundsicherung"

10. November 2025

"Ein integriertes Steuer- und Sozialtransfersystem zur Absicherung des Existenzminimums"...

 ...ein Vorschlag von Stefan Bach, Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn, zur PDF-Datei geht es hier.

Isö-Podcast Folge 2: Existenzminimum

4. November 2025

"Wir wir fleißig wurden" - doch wie gelangt der Autor zu seiner Deutung und was übersieht er?

Werner Plumpe, Prof. em., Historiker, hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag mit dem Titel "Wie wir fleißig wurden" veröffentlicht, der sich mit dem Wandel der "Einstellung zur Arbeit" befasst und das in einem historischen Überblick von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgt. Darin geht es um das Verständnis von Leistung, das vorherrschte und noch die Nachkriegszeit prägte, welche Bedeutung die Erfahrung von Knappheit und Mangel für den materiellen Wohlstandszuwachs hatte. Am Ende geht es darum, ob der Sozialstaat der Gegenwart diesbezüglich wohlstandsförderlich sei oder nicht. Im ersten Teil des Beitrags schreibt Plumpe:

"So uneinheitlich das Bild im Einzelnen ist, der Stellenwert von Arbeit scheint dennoch zurückgegangen zu sein. Um zu begreifen, welcher Wandel sich gegenwärtig vollzieht, welche Bedeutung Meinungsumfragen haben, nach denen die Bevölkerung in der Pflichterfüllung nicht mehr ihre eigentliche Herausforderung sieht, hilft es, nach den historischen Wurzeln des lange Zeit gültigen Pflichtdenkens zu fragen."

Dass der Stellenwert von Erwerbsarbeit, nur von der ist in Plumpes Beitrag die Rede, sich verändert hat, vor allem bezüglich seines Inhaltes, ist unstrittig, seine normative Bedeutung ist hingegen stärker als früher, man muss sich nur die Erwerbsquote anschauen und die Betreuungsquote in Kitas. Erwerbstätigkeit ist nicht mehr, wie Plumpe für frühere Zeiten behauptet, der Knappheit und dem Mangel geschuldet. Meinungsumfragen sind für eine solche Einschätzung eine schlechte Quelle, weil sie oberflächliche Selbsteinschätzungen wiedergeben. Plumpe neigt teils zu einer etwas mechanischen Deutung des Wandels im Arbeitsverhalten, obwohl er zugleich auf andere Aspekte diesbezüglich hinweist, so z. B. die anfangs religiös aufgeladene Bedeutung von Arbeit, deren normative Geltung sich heute von diesen Wurzeln schon lange gelöst hat:

"Doch Forschungen zur Sozialgeschichte des Arbeitsverhaltens haben ganz eindeutig gezeigt, dass es vor allem die mit der modernen Erwerbsarbeit verbundene Zunahme von Konsumchancen etwa bei Textilien oder bei Genussmitteln wie Tee und Zucker war, die das Arbeitsverhalten vieler Menschen zunehmend änderte. "

Womöglich stellt sich das in den Studien, auf die er hier verweist, differenzierter dar, hier hingegen übersieht er, dass "Konsum" nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Bewertung von Konsum als Ausweis erfolgreicher Erwerbsteilnahme zu betrachten ist. Sich etwas leisten können ist damit Ausdruck einer Bindung an das normativ Wertgeschätzte.

Folgende Deutung überrascht:

"Zusammen mit dem im Zuge der Globalisierung beschleunigten Strukturwandel führte diese Konstellation seit den späten Siebzigerjahren indes sukzessive zu einer starken Belastung der Sozialsysteme, da die aus dem Erwerbsleben verdrängten Menschen immer öfter dauerhaft im Sozialstaat „geparkt“ wurden, ohne dass es hinreichend Anreize, ja Zwänge gab, in die Arbeitswelt zurückzukehren."

Wie kommt Plumpe zu dieser Deutung? Schon in der in der 1960er Jahren eingeführten Sozialhilfe waren Sanktionen vorgesehen, wenn Arbeitsaufnahme verweigert wurde (siehe hier das Gesetz, hier unseren früheren Beitrag dazu). Wenn Plumpe, wenn auch in Anführungszeichen, davon spricht, "Menschen" seien "dauerhaft" "geparkt" worden, widerspricht das Studien aus der dynamischen Armutsforschung, die zeigen konnten, dass das gerade nicht der Fall war. Im Sozialhilfebezug war eine hohe Dynamik, viele Bezieher verließen den Leistungsbezug im ersten Jahr, weitere in den Folgejahren. Es kann nicht die Rede davon sein, dass dort "immer öfter jemand 'geparkt' wurde" (hier Literaturverweise dazu). Leistungsbezug über fünf Jahre hinaus betrifft eine deutliche Minderheit in entsprechenden Problemlagen. Dementsprechend ist auch die nachstehende Passage nicht haltbar:

"Was von der Regierung Kohl noch toleriert wurde, war für die Regierung Schröder/Fischer der Anlass, die Hartz-Reformen auf den Weg zu bringen, die alles in allem wirksam waren, gerade weil sie den sozialen Druck erhöhten. Dass dieAmpelregierung mit dem Bürgergeld die Hartz-Reformen faktisch zurücknahm und damit die Möglichkeit deutlich ausweitete, auch ohne reguläres Erwerbseinkommen zu existieren, ist denn auch der Kern der gegenwärtigen Debatte um Fleiß, Leistung und Hilfe. Das allein hat diese Debatte aber nicht verursacht. Zu einer weiteren Verschiebung, die zunächst schleichend einsetzte, kam es seit der Jahrtausendwende, als der materielle Wohlstand als Faktor der Umweltzerstörung in die Kritik geriet. Seither gilt ein fleißiges Arbeitsverhalten, das allein auf die Vermehrung des materiellen Wohlstandes setzt, als schädlich, und zwar sowohl für die natürliche Umwelt wie für das seelische Gleichgewicht des Menschen. Die von hier ausgehenden Strömungen einer Begrenzung der Arbeit, eines Verzichtes auf materielle Zuwächse, zuletzt eines umfassenden ökonomischen Schrumpfens haben vor allen Dingen bei jüngeren Menschen gehobener Bildungsschichten Attraktivität. Überspitzt gesagt: Der erhobene Zeigefinger auf andere und zugleich das Verzichtenkönnen auf eigene Arbeit machen die alte aristotelische Symbiose aus Hedonismus und Moralismus wieder aktuell."

Was meint er damit, die Regierung Kohl habe das noch toleriert? Es war stetes Wahlkampfthema seit den achtziger Jahren, die stigmatisierenden Reden über Erwerbslose waren überall zu vernehmen und Sanktionen gab es ebenfalls. Die unter der Regierung Schröder eingeführte Gesetzgebung führte zwar zu einer Verschärfung der Sanktionen, die Behauptung vom angeblich lange andauernden Leistungsbezug hingegen war eine Mär (siehe oben). Der Vermittlungsvorrang, der dazu führte, dass beinahe jedes Arbeitsangebot angenommen werden musste, führte zum größten Niedriglohnsektor in Europa, der erklärtermaßen das Ziel der Regierung war. Plumpe folgt hier der Maxime, Not mache erfinderisch, schärfere Sanktionen seien leistungsfördernd. Er übersieht hierbei jedoch die Entwertung von Leistung, die mit dieser Sozialpolitik einherging, weil sie antiinnovativ war, im Zweifelsfall gar den Verzicht auf Automatisierung befürwortete. Wenn Leistung nicht mehr daran gemessen wird, was am Ende dabei herauskommt, sondern zum Kriterium wird, wieviele Personen den Leistungsbezug verlassen haben, hat das mit Leistungsethos nichts mehr zu tun, sehr viel aber damit, Beschäftigung zu schaffen.

Abschließend schreibt Plumpe:

"Doch hat der Sozialstaat mit seinen Transferleistungen auch in anderen Teilen der Gesellschaft den Wert der Erwerbsarbeit infrage gestellt. Diese Entwicklungen werden sich mit Appellen, deren Gültigkeit in historischer Perspektive immer an den Zwängen der Knappheitsbewältigung hing, kaum korrigieren lassen. Und eine Wiederkehr existenzieller Knappheiten ist kaum erstrebenswert. Wie aber ansonsten eine 'Wiederverfleißigung' der Menschen erfolgen könnte, ist ein offenes Problem."

Worauf rekurriert Plumpe hier? Soll die von der CDU angezettelte Bürgergeldkampagne als Beleg gelten, also die nicht auffindbaren vielen "Totalverweigerer", von denen immerzu die Rede war? Offenbar sieht er nicht, dass es gerade diese Sozialpolitik war und ist, die Leistung entwertet und abgesehen davon, andere Leistungsformen, von denen ein Gemeinwesen ebenso lebt, degradiert. Mehr denn je erscheint die Familienpolitik heute als Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik und entwertet damit eine weitere wichtige Leistung für das Zusammenleben. Das "offene Problem", das er hierin zu erkennen scheint, wäre in einer anderen Richtung zu suchen, dass die Entwertung von Leistung in der jungen Generation womöglich Spuren hinterlassen hat (siehe dazu hier).

Sascha Liebermann

1. November 2025

Annahmen ziehen Schlussfolgerungen nach sich, doch sind die Annahmen treffend?

Im Handelsblatt hat Bert Rürup, Wirtschaftswissenschaftler, einst "Wirtschaftsweiser" und vielfältig Politikberater, einen Beitrag mit dem Titel "Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück" (wir hatten denselben Titel für einen Kommentar genutzt, siehe hier) veröffentlicht. Wie dem Titel zu entnehmen ist, greift er die Diskussionen um das Bürgergeld auf und ordnet sie ein. Endlich habe auch die SPD ein Einsehen, dass die Einführung des Bürgergeldes ein Fehler war, so liest sich sein Beitrag, als seien damals grundsätzliche Änderungen eingeführt worden. Eher könnte man davon sprechen, dass die Bezugsregelungen etwas weniger strikt ausfielen, aber angesichts einer nach wie vor geltenden Bedürftigkeitsprüfung in Verbindung mit einem sanktionsbewehrten Leistungsbezug konnte nicht ernsthaft von einer wesentlichen Erleichterung für die Bezieher gesprochen werden. Deswegen war schon damals Kritik an der Bezeichnung "Bürgergeld" laut geworden, da sie etwas suggeriere, das nicht der Fall war, und zwar dass eine Leistung für alle Bürger als Bürger war, ohne sonstige Bezugsbedingungen. Insofern ist die nun vorgesehene Veränderung eben nur eine Rückkehr zu dem, was es zuvor schon gab.

Rürup fehlt allerdings eine entscheidende Veränderung, die Frage nach den Hinzuverdienstregelungen, denn die seien demotivierend, der Transferentzug ist bei Hinzuverdiensten erheblich, es bleibt von ihnen letztlich nicht viel übrig. Diese Kritik gibt es schon lange, sie steht im Zusammenhang mit der um das Lohnabstandsgebot sowie dem ihm zugrundeliegenden Theorem von der Armutsfalle, eines Theorems, das hohes Ansehen genießt, aber empirisch nicht belegt ist (siehe hier). Dass über die Frage diskutiert werden kann, wann es sich "lohne", erwerbstätig zu sein und wann nicht, soll hier nicht bestritten werden, die Engführung ist das Problem, als entscheide sich dies am Lohnabstand alleine und vor allem, als habe Erwerbstätigkeit nicht noch andere ebenso gewichtige Dimensionen, die für den Einzelnen relevant sind und als gebe es nicht andere Aufgaben, die bedeutender sein können oder es gar sind. Dass dies keine Beachtung findet bei denjenigen, die den Lohnabstand zu gering bzw. die Transferentzugsrate zu hoch finden, liegt an deren Vorstellung davon, warum Menschen tun, was sie tun. Bei Rürup wird das an folgender zustimmend zitierter Aussage deutlich:

"'Wenn man die Wahl hat, entweder brutto für netto mehr zu verdienen oder aber für mehr Brutto kaum oder kein zusätzliches Netto zu erhalten, verwundert diese Reaktion auf die Anreize des Sozialsystems nicht', stellt Ifo-Experte Andreas Peichl fest."

Folgerichtig, von diesen Annahmen ausgehend, muss das "Arbeitsangebot gezielter" stimuliert werden.

"Sicherlich sind einfachere Lösungen denkbar. Allerdings wäre es durch eine Kombination unterschiedlicher Entzugsraten möglich, das Arbeitsangebot gezielter zu stimulieren und zugleich fiskalische Einsparungen unter Berücksichtigung verteilungspolitischer Ziele zu erzielen. Denn eine „One-size-fits-all-Lösung gibt es nicht“, schreibt das Ifo-Institut zutreffend."

Weil eindimensional gedacht wird, kann das Problem nur durch gezieltere Stimulierung gelöst werden, als fehle es an der grundsätzlichen Bereitschaft. Rürup erkennt nicht an, dass es einen Zielkonflikt geben kann, wenn die Aufnahme von Erwerbstätigkeit bzw. die Erhöhung des Umfangs mit anderen Verpflichtungen schlicht kollidiert und bei ganz gleichem Lohn der Preis zu hoch wäre, der Preis, der in diesem Fall womöglich hieße, andere Dinge nicht tun zu können, die der Einzelne für wichtig oder gar wichtiger erachtet. Bestimmmte Annahmen ziehen eben bestimmte Schlussfolgerungen nach sich, aber wie steht es um die Annahmen?

Sascha Liebermann

28. Oktober 2025

„Ich bin nicht euer Hund“...

 ...so ist ein Beitrag von Nicolas Kurzawa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke) übertitelt, der über die Erfahrungen von Arbeitsvermittlern im Jobcenter berichtet, Grundlage war ein Besuch im Jobcenter.

Von drei Gesprächen wird berichtet, alle drei sind unterschiedlich - dennoch geben sie Einblick in die alltägliche Arbeit. Solche Berichte kann man nur jedem empfehlen, der sich selbst nicht vorstellen kann, warum jemand Bürgergeld bezieht und er sei denjenigen empfohlen, die mit Haudrauf-Methoden die Debatte um das Bürgergeld angezettelt haben, die behaupten, es gebe ein ungeheures Potential an möglichen Erwerbstätigen, die im Bürgergeldbezug sich ausruhen, ganz zu schweigen von der großen Zahl an "Totalverweigerern", die dort abhängen und sich ein schönes Leben machen.

Sascha Liebermann

21. Oktober 2025

Vortrag von Ute Fischer in München, am 17 November

16. Oktober 2025

Vollständige Streichung von Sanktionen möglich? Ein Kommentar von Stefan Sell...

...aus dem Jahr 2023 ist zur Klärung hilfreich (siehe den Kommentar hier). Hilfreich ist er, weil zuletzt geradezu empört auf die Vorschläge der Bundesregierung zur "Reform" des Bürgergeldes reagiert wurde, dabei zeigt ein anderer Kommentar von Stefan Sell aus dem Januar 2024, wer eine solche Verschärfung samt erhoffter Einsparungen schon vorgesehen hatte: die damalige Bundesregierung durch einen Vorschlag des Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Sell schrieb im Dezember damals:

"Dass das BVerfG unter bestimmten Umständen auch den vollständigen Leistungsentzug als nicht grundsätzlich verfassungswidrig eingestuft haben, ist begründungsbedürftig. Hierzu die Argumentation des Gerichts, die gleichsam von oben nach unten gelesen werden muss: Zwei Begriffe sind hier von zentraler Bedeutung: Der Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG, hier zitiert nach dem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Hervorhebungen nicht im Original):

'Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.'"

Entscheidend ist nach Sell dieser Absatz:

"'Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.' (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Randziffer 209)."

Man kann sich also lange über aktuelle Vorschläge aufregen, und das zurecht, weil sie Potemkinsche Dörfer bauen, Wolkenkuckucksheime, ohne wirklich eine in die Zukunft weisende Lösung zu bieten. Dann sollte aber nicht übersehen werden, dass diese Diskussion von der alten Bundesregierung gefördert wurde, was sie nicht hätte tun müssen. Auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen, ohne eine wirkliche Alternative anzubieten, unterläuft die Verantwortung dafür, eine politische Lösung zu suchen. 

Was steht einer solchen Lösung im Weg? Nun, der politische Wille dazu ist gegenwärtig nicht zu erkennen, damit meine ich nicht nur bei Bundestagsmitgliedern, sondern in der öffentlichen Diskussion. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen, das so viele Anknüpfungspunkte im bestehenden Sozialstaat aufgreifen und transformieren kann, steht nicht zur Diskussion, auch wenn die Abgrenzung dagegen ständig bemüht wird. Woran hängt das? Die Antwort hierauf scheint mir sehr einfach, wie ich gestern in einer öffentlichen Diskussion dazu wieder feststellen konnte:

1. Der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit wird nicht angetastet, sie thront über allem. Dort, wo es zumindest Sympathien für eine Relativierung von Erwerbstätigkeit gibt, wird darauf verwiesen, dass wir nun mal in einem kapitalistischen System lebten, in dem die Wertschöpfung an Lohnarbeit hänge. Dieser Fatalismus kommt einer Selbstentmachtung gleich und würde jedes politische Handeln überflüssig machen. Davon abgesehen hängt der Wertschöpfungsprozess an Voraussetzungen, die er selbst nicht schafft: einem politischen Gemeinwesen und den leistungsbereiten Bürgern, die sich engagieren.

2. Die Bedeutung eines garantierten Einkommens in Geldform für die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen wird unterschätzt. Dass ein solches Einkommen nicht nur einfach Geld ist, sondern zugleich  Macht bedeutet, sich gegen und für etwas zu entscheiden, wird nicht gesehen oder heruntergespielt. Es sei ein "Kulturwandel" nötig, er sei wichtiger, hieß es gestern - ein BGE wäre aber gerade ein Kulturwandel insofern, als die Gemeinschaft sich in Gestalt ihrer Bürger ein garantiertes Einkommen gewährt, das direkt an die Person geht und sie dann machen lässt. Damit erkennt sie ihre Stellung im Gemeinwesen an und vertraut darauf, dass die Bürger zum Wohle des Gemeinwesens grundsätzlich zu handeln bereit sind.

3. Mit dem zweiten Punkt verknüpft ist das Misstrauen gegenüber dem Individuum als Bürger, wie es sich gerade auch in der Bürgergelddebatte wieder zeigt - die Sorge um negative "Anreize". Alleine schon das Denken in Anreizen ist eine Bankrotterklärung, weil unterkomplex und den Menschen als ein Wesen verstehend, das ohne ihm äußere Stimulationen nichts zu leisten im Stande ist.

Sascha Liebermann

"Über 500 verschiedene Sozialleistungen in Deutschland"...

 ...hat das ifo-Institut ausfindig gemacht und eine Inventarliste erstellt. Hier ein Auszug aus der Pressemitteilung:

"Als Sozialleistungen gelten Dienstleistungen, Geldleistungen, Sachleistungen oder andere Hilfen, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit erbracht werden im Sinne der Paragraphen 1 und 11 des Sozialgesetzbuchs I (SGB I). Die Autoren garantieren keine Vollständigkeit der Liste. Experten und Interessierte sind dazu eingeladen, potenzielle Ergänzungen oder Korrekturen mitzuteilen, um die Qualität und Vollständigkeit der Informationen zu verbessern. Die Datenbank ist aufrufbar unter: https://github.com/ifo-institute/sozialleistungen"


Für die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen ist diese Auflistung interessant, weil damit deutlich gemacht werden kann, welche Möglichkeiten ein BGE stattdessen bietet. Von Beginn der Debatte an waren Fragen nach einer Vereinfachung des Leistungszugangs und der -bereitstellung zentral, damit Anspruchsberechtigte möglichst leicht ihre Ansprüche geltend machen könnten angesichts der hohen Rate geschätzter Nicht-Inanspruchnahme ("verdeckte Armut"). Die Frage nach dem Zugang ist eine der Gerechtigkeit, hinzu kommt die Frage nach der Zielgenauigkeit, auch wirklich diejenigen zu erreichen, die sie am meisten benötigen. Der Bereitstellungsmodus entscheidet darüber, ob die Leistungsbereitstellung stigmatisierend ist oder nicht und im Falle eines BGE würde der Modus auf ein anderes Fundament gestellt, weil nun nicht mehr die Rückführung in den Arbeitsmarkt das vorrangige Ziel der Leistungen wäre, sondern die Stärkung der Selbstbestimmung der Bürger als Bürger.

Wenn es um die "Reform" des Bürgergeldes geht, dann muss sie sich daran messen lassen, welche Antworten sie auf die oben genannten Fragen gibt. Die Messlatte wird durch ein BGE hoch gelegt, weil sich mit ihm viele Leistungen bündeln ließen, ohne andere, die darüber hinaus nötig blieben, in Frage zu stellen.

Sascha Liebermann