1) Eine Person wird aufgrund ihrer Lebenssituation für ein Interview ausgewählt, das später in den Medien ausgestrahlt wird, gekürzt oder auch nicht. Die Person befindet sich in einer Lebenssituation, die strukturell stigmatisierend ist und Bürgegeldbezieher in eine Rechtfertigungssituation bringt, man erinnere sich nur an die nicht selten pauschale Verunglimpfung. Die Stigmatisierung struktureller Art geht auf den normativen Vorrang von Erwerbstätigkeit zurück. Warum ist es wichtig, sich das klarzumachen? Weil der Befragte dadurch schon in der Defensive ist.
2) Beim Einspieler handelt es sich um eine kurze Sequenz, einen Zusammenschnitt, man erfährt nicht viel und gleichwohl wird zu Beginn schon deutlich, dass hinter der Lebenssituation eine lange Leidensgeschichte steht, mit etlichen Aufs und Abs, wie der Befragte selbst schildert. Nun ist er 58, hat keine abgeschlossene Berufsausbildung, kommt mit dem Bürgergeld 'rum, wie er sagt, aber an den Ausführungen ist zu erkennen, dass die Leidensgeschichte noch nachwirkt. Seine Position im Arbeitsmarkt ist äußerst schwierig.3) Wie groß ist seine Leistungsfähigkeit und -bereitschaft angesichts der Lebenssituation und der Vorgeschichte? Was kann er leisten und damit einem Arbeitgeber bieten, der in der Regel kontinuierliche Mitarbeit benötigt, ohne ständig unterstützen zu müssen? Der Einspieler zumindest macht den Eindruck, als seien die Möglichkeiten hier sehr eng gesteckt.
4) Wenn er nun am Ende des Clips sagt, dass er nicht bereit sei, irgendeine Arbeit anzunehmen, nur um arbeiten zu gehen, dann macht er lediglich deutlich, dass es doch nicht um Arbeit als Selbstzweck gehe, sondern um Leistung. Damit Leistung erbracht werden kann, muss es ein Passungsverhältnis zwischen Neigungen, Fähigkeiten, Interessen auf der einen und der Aufgabe, die es zu bewältigen gibt, auf der anderen Seite geben. Kurz gesagt, die Sache muss jemandem liegen, damit er kontinuierlich etwas leisten kann. Es geht letztlich um Leistung und nicht um Beschäftigung.
5) Unisono reagieren die der Bundeskanzler und Herr Merz mit Unverständnis, Verschärfungen werden in Aussicht gestellt, denn es gehe ja schließlich nicht, dass sich jemand derart verweigere. Denkt man nur ein wenig nach, betrachtet die gegenwärtige Lage des Befragten vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte und setzt sie ins Verhältnis dazu, was für Leistungserbringung notwendig ist, kann einen diese Reaktion nur verwundern. Zumindest der Videoclip lässt erahnen, dass weder dem Befragten mit einer Verschärfung geholfen wäre, noch der Wertschöpfung, es scheint lediglich darum zu gehen, ein bestimmtes Gerechtigkeitsempfinden zu bedienen, das mit Leistung nichts und mit Würde der Person auch nichts zu tun zu haben scheint.
Apropos: Das Bürgergeld heißt im entsprechenden Sozialgesetzbuch übrigens immer noch "Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende". Eine Umbenennung in "Neue Grundsicherung" wäre eine kosmetische Veränderung, wie schon die Umbenennung von Hartz IV eine solche war. Dass Volksmund und öffentliche Diskussion die Kurzform "Bürgergeld" bevorzugen hat vermutlich denselben Grund wie schon bei "Hartz IV", auch das war nicht die offizielle Bezeichnung, sie war aber griffiger als die Bezeichnung aus dem Sozialgesetzbuch, die lautete "Grundsicherung für Arbeitsuchende".
Scheindebatten und -lösungen führen also nicht weiter, für niemanden. Dass es aber genau solche Debatten sind, die mögliche Lösungen überdecken und Vorurteile pflegen, sollte mittlerweile offensichtlich sein, ist es aber wohl nicht.
Sascha Liebermann