7. September 2025

Ein Pappkamerad, keine etablierte Partei stellt Sanktionen in Frage

Die Fixierung mancher darauf, Sanktionen könnten nicht hart genug sein, ist das eigentliche Problem, wenn die Empirie zum Bürgergeld berücksichtigt wird. 

Sascha Liebermann

6. September 2025

"Totalverweigerer sind sehr selten"...

...so ist ein Beitrag von Oliver Bock in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung überschrieben (Rhein-Main/ Wiesbaden). Nun liefert er zwar keine überraschenden Einsichten, ist aber doch angesichts der Gerüchte und teils gegenläufigen Stimmen selbst aus den Jobcentern informativ.

"Wird ein schärferes Vorgehen gegen tatsächlich oder vermeintlich arbeitsunwillige Bürgergeldempfänger den deutschen Sozialetat spürbar entlasten? Im Sozialleistungs- und Jobcenter der Landeshauptstadt Wiesbaden ist die Skepsis groß. Zwar werden gegen eine kleine Zahl der „Kunden“ regelmäßig Sanktionen verhängt. Doch meist geht es dabei um geringe Versäumnisse bei der Einhaltung von Terminen, aber ganz selten um Pflichtverweigerung. Sogenannte Totalverweigerer seien die sehr seltene Ausnahme, heißt es."

Wie schon früher durch Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ausgewiesen wurde, handelt es sich bei einem großen Teil der Sanktionen um Terminversäumnisse (siehe hier und hier), wie auch die untenstehende Grafik zeigt. Das im Beitrag überhaupt von "Totalverweigerern" ohne Anführungszeichen gesprochen wird, erstaunt, denn es ist kein Terminus des Gesetzgebers, weckt aber bestimmte Assoziationen. Selbst bei denen, die sich also verweigern, wäre genau hinzuschauen, um die Gründe zu kennen, dann stellt sich womöglich heraus, dass es bei der "Verweigerung" um etwas anderes geht.


"In jedem Jahr gelingt es Wiesbaden, etwa jeden fünften in der Landeshauptstadt gemeldeten Langzeitarbeitslosen in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu vermitteln oder beim Sprung in die Selbständigkeit zu helfen. Rund zwei Drittel dieser „Kunden“ des Jobcenters halten länger als ein Jahr durch. Jeder Dritte ist dann wieder auf Sozialleistungen angewiesen."

Diese Schilderung der Erfahrung der Jobcenter zeigt, was in der Debatte häufig übersehen, ignoriert oder gar geleugnet wird. Auch hierzu gibt es ja schon länger Forschung, die auf der Basis nicht-standardisierter Forschungsgespräche (Interviews) herauszufinden versucht, wie die Problemlagen konkret aussehen und welche Genese sie haben. Das hat dann eben nichts gemein mit Slogans, die behaupten, die Angebote müssen nur verbessert oder die Bildungsanstrengungen verstärkt werden, siehe hierfür unsere Beiträge zur "Armutsfalle" und zu "Anreizen".

"Vor 20 Jahren hatte sich Wiesbaden entschieden, im Zuge der Zusammenführung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe eine von 16 hessischen Optionskommunen zu werden und die Betreuung derjenigen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, in Eigenregie zu übernehmen. [...] 'Das war die richtige Entscheidung', sagt Becher und verweist auf die Vorteile kommunaler Netzwerke und Kooperationen, kurzer Wege, hoher Flexibilität und der Verzahnung mit sozialen Trägern in der Stadt. Das Ziel sei unverändert, 'passgenaue Wege' für die 'Kunden' aus der Arbeitslosigkeit zu finden. Das ist aber nur in Abhängigkeit vom lokalen Arbeitsmarkt möglich. Und dieser hat in Wiesbaden die Besonderheit und Erschwernis, dass es vergleichsweise wenige Stellen für Ungelernte gibt."

Also näher an denen sein, die beraten werden, möglichst genau herauszufinden, was zu ihnen passt und was nicht, aber immer mit dem Ziel: Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Das ist angesichts der Gesetzeslage unverrückbar, aber womöglich nicht der richtige Weg für diejenigen, die für den Arbeitsmarkt nicht geeignet sind. Um aus diesem Hamsterrad herauszukommen, bedürfte es einer Absicherung, die breiter greift und die Rückkehr in den Arbeitsmarkt nicht als fortwährendes Ziel begreift. Das geht nur mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Auch interessant ist diese Einschätzung:

"Dass es nicht gelingt, mehr Ukrainer in Arbeit zu bringen, begründet Jobcenter-Leiterin Ariane Würzberger mit den hohen Anforderungen in Deutschland an die Berufseignung und den Hürden bei der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse. Auch die Sprache sei ein großes Hindernis, weil deutsche Arbeitgeber großen Wert auf deutsche Sprachkenntnisse legten. Sie seien nicht flexibel genug, um auch mit Englisch klarzukommen. Die Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt ist ein mühsames Geschäft. Drei Viertel der Bürgergeldbezieher sind schon länger als vier Jahre ohne Job. Gelingt die Rückkehr ins Erwerbsleben, ist das Einkommen nur in gut einem Drittel der Fälle hoch genug, um damit den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das Fazit: Es gibt eine 'verfestigte Gruppe, die dauerhaft oder immer in prekärer finanzieller Situation lebt und schon viele Jahre Grundsicherungsleistungen bezieht.'"

"Verfestigte Gruppe" - das ist statistisch betrachtet oder vielleicht vor dem Hintergrund des festgeschriebenen Ziels der Rückkehr in den Arbeitsmarkt. Wenn es dieses Ziel aber gar nicht gäbe, gäbe es andere Möglichkeiten der Beratung und auch andere Ziele. Die gesamte Debatte müsste und könnte ganz anders geführt werden.

Zum Abschluss:

"Drei Viertel sind indes Langzeitarbeitslose, von denen wiederum drei Viertel keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen können. Wegen ihrer Versäumnisse und Pflichtverletzungen bei der Arbeitsvermittlung fallen nur jährlich ein bis sechs Prozent der 'Kunden' beim Jobcenter negativ auf und geraten in Gefahr, sanktioniert zu werden.

Die Totalverweigerer seien unter diesen die seltene Ausnahme. In 85 Prozent der Fälle gehe es um Unpünktlichkeit und Fristversäumnisse. Dabei ist der Blickwinkel von Jobcenter und Arbeitgeber naturgemäß unterschiedlich. Wenn ein ehedem Langzeitarbeitsloser an vier von fünf Tagen pünktlich erscheint, dann ist das aus Sicht der Fallmanager schon ein Erfolg. Aus Sicht der Arbeitgeber aber kann das schon untragbar sein."

Damit ist alles gesagt und die Alternativen stehen einem vor Augen - wenn man sie sehen und haben will.

Sascha Liebermann

3. September 2025

Kosten der Bedarfsfeststellung?

Diese Frage liegt nahe, denn eine - wie schon häufiger erwogene - pauschale Bereitstellung des Existenzminimums würde Einsparungen erlauben, die anders eingesetzt werden könnten. Wenn nur noch Bedarfe oberhalb des Existenzminimums (also z. B. KdU usw.) ermittelt werden müssen. 

Welche Einnahmen wären durch eine konsequentere Verfolgung von Steuerhinterziehung zu erreichen?

Warum spielen stattdessen die Einsparungen bei Bürgergeldleistungen eine so große Rolle, die anderen Fragen werden aber wenig gestellt?

Sascha Liebermann

1. September 2025

Verwechslungsgefahr?

Diese Behauptung Heike Göbels, verantwortliche Redakteurin Wirtschaftspolitik bei der FAZ, setzt entweder voraus, dass von den Bezugsbedingungen des Bürgergelds vollständig abstrahiert wird oder sie dient nur der Skandalisierung von Mindestsicherungsleistungen. Der Begriff Bürgergeld ist in der Tat irreführend, weil er etwas nahelegt, von der Wortbedeutung, das alle erhalten. Die Bezugsbedingungen des Bürgergeldes machen aber sogleich klar, wer es nur erhalten kann und was er dafür zu tun hat. Insofern ist eine Verwechslung ausgeschlossen.

Frühere Kommentare zu Einlassungen Heike Göbels zum BGE oder ähnlichen Konzepten finden Sie hier.

Sascha Liebermann

"Bedingungsloses Grundeinkommen: Eigentor für die Wirtschaft oder Traumtor für die Gesellschaft?"

Unter diesem Titel wird am 15. Oktober, von 18-21 Uhr, an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg über ein Bedingungsloses Grundeinkommen diskutiert. Das Programm für den 15. Oktober:

Pro:
Dorothee Herzog (Mein Grundeinkommen)
Dan-Felix Sorgler (Unternehmer)

Contra:
Sarah-Lee Heinrich (ehem. Sprecherin Grüne Jugend)
Diana Kinnert (Autorin)

Einordnung & Expertise:
Prof. Dr. Sascha Liebermann

Moderation:
Vanessa Edmeier

Diese Diskussion gilt als Kickoff-Veranstaltung für die Tagung "Das Ende des Gemeinwohls?", die am Folgetag stattfinden wird (Programm vom 16. Oktober). 

Hier geht es zur Anmeldung für beide Termine.

31. August 2025

Damals wie heute oder heute sogar noch mehr

Gründungsförderung anders gedacht

"Nie wieder Vollbeschäftigung! Wir haben Besseres zu tun"

27. August 2025

Einst und jetzt

26. August 2025

"Systemwechsel" von der Grundsicherung in die Grundsicherung?

24. August 2025

Ist es nun "notwendig" oder nicht?

Mehr oder weniger mit dieser Frage befasste sich Ane Hebeisen in Der Bund schon Ende Juli (also einige Wochen vor dem gestern kommentieren Beitrag von Markus Städeli), ob denn KI nun dazu führe, dass ein Bedingungsloses Grundeinkommen unausweichlich werde, weil usw. usf. Es ist eine bedauerliche Seite der BGE-Diskussion, diese befürchtete oder erhoffte Entwicklung als Argument dafür hervorzuziehen, dass nun also wirklich ein BGE nicht mehr abzuwenden oder aufzuhalten sei. Ganz gleich, was die KI nun mit sich bringt, ein BGE ist auch so eine interessante Alternative, doch dazu müsste man sich ernsthaft damit beschäftigen, das ist in dem etwas launischen Beitrag nicht zu erkennen.

Hebeisen schreibt an einer Stelle:

"Ich versuchte zu erklären: Die Schweiz betrachte ihren Wohlstand eben nicht als selbstverständlich. Die Zeiten, in denen die hiesige Landbevölkerung mit Hungersnöten und Überlebenskummer zu kämpfen gehabt habe, lägen bloss 200 Jahre zurück. Das habe das Volk demütig gemacht. Und in dieser Demut habe man einen Arbeitseifer entwickelt, der die Schweizerinnen und Schweizer zum – jedenfalls statistisch – dritt-fleissigsten Volk Europas gemacht habe. Weit vor den Deutschen und den hoffnungslos abgeschlagenen vereinigten Königreichlern."

Was besagt das nun im Verhältnis zum BGE? Relevant wird diese Einordnung nur, wenn man der Auffassung ist, Leistungsbereitschaft und -fähigkeit erwachse aus Not, ganz dem Motto folgend "Not macht erfinderisch". Diese Vorstellung ist in der Tat weit verbreitet und auch keineswegs rundheraus abwegig, aber sie ist borniert. Denn Not verengt den Blick, gerade weil ein drängendes Problem schnell einer Lösung bedarf, da bleiben langfristige Erwägungen schnell außen vor. Selbst die Lösungssuche in der Not bedarf indes einer gewissen Muße im Sinne einer Haltung, die bereit ist, eingetretene Pfade zu verlassen, um Alternativen zu erkennen und zuzulassen. Wer sich darauf gar nicht erst einlässt, über das Bestehende hinauszudenken, auch in der Not, kommt eben nicht weiter - das ist auch in der Not kein Automatismus, innovativ zu werden, sonst würden ja alle innovativ. Abwegig wird es, wenn nun aus der Not abgeleitet wird, dass es stets der Not bedarf, um Neues in die Welt zu bringen, das ist die problematische Seite an dem Motto, wie Hebeisen es hier verwendet. Der heute - auch in der Schweiz - existierende Wohlstand hat neben anderem eben mit der Innovationsbereitschaft trotz Wohlstand zu tun, das erklärt sich aus der Not heraus überhaupt nicht. Mit dieser Einsicht wäre der Boden bereitet, das BGE geradezu als Innovationsermöglicher zu betrachten, weil es die Verengung durch Not in jeder Lebenslage und Hinsicht aufzuheben ermöglicht, zumindest strukturell.

Was macht nun Hebeisen daraus?

"Und so lautet die nächste grosse Frage, was wir Menschen denn wohl tun werden, wenn wir bald von den grundlegenden Sachzwängen des modernen Lebens befreit werden? Kein Kontostand-Kummer mehr beim Bezahlen an der Migros-Kasse. Kein gesellschaftlicher Produktivitätsdruck, der uns zuweilen den Schlaf raubt. Dafür ganz viel Zeit. Und wer ins Erwerbsleben einsteigt, wird nicht mehr fragen, welche Tätigkeit die grösste Sicherheit verspricht, sondern was er oder sie am liebsten tut."

Ganz wie bei Städeli droht ohne Druck Ungemach, der Untergang naht, wie auch daran zu erkennen ist, dass Hebeisen einen Gegensatz zwischen Erwerbsengagement, um Sicherheit zu erlangen, auf der einen und der Ausrichtung an Neigungen und Interessen auf der anderen Seite konstruiert. Weshalb sollte das ein Gegensatz sein, sofern Neigung und Interessen nicht mit Hedonismus und Spaß gleichgesetzt werden? Gerade die Haltung jedoch, die Hebeisen heraushebt, die Suche nach Sicherheit, ist ja kein Movens für problemlösendes Tätigsein, solange sie keinen Sachbezug hat. Wenn sie den Bezug zur Sache hingegen hat, ist sie auch problemlösend und erfüllend, was wiederum gewissen Neigungen und Interessen voraussetzt.

Dann folgt:

"Der deutsche Fernseh-Philosoph Richard-David Precht spricht denn im Zuge eines bedingungslosen Grundeinkommens auch vom Übergang der Arbeitsgesellschaft in eine Sinngesellschaft. Wer indes in einer solchen Sinngesellschaft die etwas weniger angenehme Arbeit für uns übernehmen würde – Pflege, Bau, Reinigung –, ist genauso unklar wie die Frage, ob diese neue Form des Wohlstands in einigen privilegierten Ländern aus global-wirtschaftlicher und -gesellschaftlicher Sicht überhaupt zu verantworten wäre."

Welch ein Gewährsmann für einen Journalisten! Wer macht die unangenehmen Tätigkeiten? Die Antworten lassen dann schnell erkennen, wie wenig die Einwänder vom heutigen Arbeitsmarkt verstehen, der eben keine Garantie dafür bietet, Personal zu finden. Welche Möglichkeiten bleiben also, ganz unspektakulär: bessere Arbeitsbedingungen bieten, einen besseren Lohn, Automatisierungsmöglichkeiten nutzen oder wenn das alles nichts hilft, eine öffentliche Diskussion über den Stellenwert von Tätigkeiten führen. Vielleicht hat das, was einige als "unangenehm" bezeichnen auch schlicht damit zu tun, dass sie es von ihrer Warte aus so einschätzen und dass andere die Tätigkeit, die man selbst als so hochstehend erachten, auch "unangenehm" finden und sie nie ausüben würden.

Wie im gestrigen Kommentar so muss auch hier der Paternalismus herausgehoben werden, der sich ein besorgtes Gewand umgelegt hat:

"Laut Studien arbeiten 85 Prozent der Gewinnerinnen und Gewinner grosser Geldbeträge einfach weiter. 11 Prozent reduzieren immerhin das Pensum, 10 Prozent machen sich selbstständig. Und Psychologen berichten, dass für einige der Wegfall des Arbeitszwangs zu einem «Verlust des Lebenssinns» führe. Ohne dieses Gefühl, gebraucht zu werden und in dieser Gesellschaft eine Aufgabe zu haben, lebt es sich demnach gar nicht mal so unbeschwert."

Was folgt nun aus dem letzten Satz? Beschäftigungssimulation oder -therapie? Fragt sich der Autor nicht woher denn diese Wertschätzung kommt, die keine menschheitsgeschichtliche Selbstverständlichkeit ist?

Soll es der "Staat", wie er bei den Paternalismuskritikern gerne beschworen wird, etwa durch Aufgabenschaffungsprogramme lösen - wäre das nicht gerade paternalistisch und entmündigend?

Sascha Liebermann

23. August 2025

"Normal gestrickte Menschen"...

...sind das Risiko schlechthin der Demokratie. So könnte man den Kommentar Markus Städelis in der Neue Zürcher Zeitung zusammenfassen, der dort den Vorschlag Sam Altmans und Elon Musks kommentiert, die im Bedingungslosen Grundeinkommen ein Mittel sehen, um den Folgen der KI-Nutzung, die ihrer Auffassung nach hohe Arbeitslosigkeit mit sich bringen werde, begegnen zu können. Ein BGE erlaube, so Städeli, ohne Existenzängste Möglichkeiten zu ergreifen, die dem Einzelnen gemäß seien.

Nicht ganz geheuer ist ihm dieser Vorschlag, weil er von zwei Unternehmern kommt, die doch selbst für diese Folgen verantwortlich seien, was ganz danach klingt, als sollte eine solche Entwicklung vermieden werden, wenn denn die KI tatsächlich diese Folgen hätte. Doch warum? Wenn nun KI zur Substituierung menschlicher Arbeitskraft in der Breite führen würde, weil sie Routinetätigkeiten zuverlässiger erledigen könnte, gewönne doch der Einzelne Zeit für das zurück, was die KI eben nicht kann. Wo ist das Problem?

Tja, das Problem ist die Grundverfasstheit des Menschen, so hat man den Eindruck, denn:

"Falls KI wirklich Massenarbeitslosigkeit verursachen sollte, sind gesellschaftliche Probleme programmiert: Arbeit ist ja nicht bloss eine Quelle des Einkommens, sondern auch ein wichtiger Teil der sozialen Identität und des Zusammenhalts. Der Wegfall einer Tagesstruktur würde zu mehr Alkohol- und Drogenkonsum sowie zur gesellschaftlichen Isolation führen."

Dahin ist die Vorstellung vom zur Selbstbestimmung fähigen Menschen, der für solche Veränderungen auch angemessene Antworten finden könnte. Obwohl Städeli selbst Ansatzpunkte dafür erkennen lässt, weshalb seine Behauptung fragwürdig erscheint, sieht er diese nicht. Zweifelsohne hat Erwerbstätigkeit heute einen hohen Stellenwert, aber doch nicht, weil der Einzelne ihr diesen verleiht, sondern weil er ihr gemeinschaftlich verliehen wird, man schaue sich nur die Systeme sozialer Sicherung an. Wenn also diese kollektiv vorherrschende Deutung aufgegeben würde, bräche der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit zusammen, nicht aber das Leben als solches. Städeli sagt ja selbst, dass sie nur "ein wichtiger Teil" sei, nicht aber der alleinig wichtige. Dann folgt sogleich das Untergangsszenario ganz im Sinne von Brot und Spiele: der Absturz in Alkohol- und Drogenkonsum. Das führt einen direkt zur Forderung nach der Abschaffung der Rente, denn sie müsste ja das Vorspiel im Kleinen zu diesem Untergang sein. Scheint nicht so ganz zu stimmen mit der Behauptung, ja, weshalb nur?

Darüber hinaus droht Ungemach von anderer Seite: die Fleißigen und die Faulen werden sich als Feinde gegenüberstehen, weil ein BGE ja ungerecht sei. Moment, aber erhalten es nicht beide Gruppen? Wollte der Autor denn etwa dafür plädieren, lieber auf Rationalisierungs- und Automatisierungsvorteile zu verzichten, um Arbeitsplätze zu erhalten, damit "der Mensch" - wie es heute so gerne heißt - eine Aufgabe hat? Solchen Paternalismus aus der NZZ zu vernehmen, die sich stets um Eigenverantwortung Sorgen macht, ist wirklich unerhört.

Städeli aber ist vorbereitet, argumentativ, denn:

"Normal gestrickte Menschen komponieren nicht plötzlich den ganzen Tag Musik und verschreiben sich auch nicht der Nachbarschaftshilfe, wenn man ihnen einen monatlichen Check ausstellt. Sie bleiben morgens einfach im Bett liegen."

Ach so, sie sind zu dieser sagenumwobenden Eigenverantwortung gar nicht in der Lage, und zwar nicht nur Einzelne, ja insbesondere die "normal gestrickten Menschen", während die Kreativen eine herausgehobene Größe darstellen sozusagen die Krönung des Menschseins. Bass erstaunt kann man sein, dass Städeli diese Herablassung der sonst sich so nah am Menschen fühlenden und für ihn sprechenden NZZ nicht bemerkt oder eben für ganz angemessen hält. Sollte letzteres der Fall sein, wäre das Plädoyer für die NZZ-artige Eigenverantwortung hoffnungslos idealistisch. Wie ist dann nur die direkte Demokratie in der Schweiz mit guten Gründen vertretbar, stellt sie angesichts solchen Verständnisses des Menschseins nicht die Bedrohung für Wohlstand und Ordnung schlechthin dar? Die Schweizer demnach ein Volk von Träumern?

"Eine kleine Zahl von Menschen wird aktiv, lernfähig und erfolgreich bleiben, während eine wachsende Zahl von Menschen in Passivität gelähmt sein wird."

Zitiert Städeli nur Musk oder spricht Musk Städeli aus der Seele? Vielleicht sind sie doch Brüder im Geiste.

Sascha Liebermann

20. August 2025

Hart arbeiten, fleißig sein, es muss sich lohnen,...


...es reicht nicht, einfach seine Arbeit (=Erwerbsarbeit) zu erledigen (ab Minute 5 etwa), "hart" muss gearbeitet werden, "fleißig" müssen die Leute sein. Wer dann "hart" gearbeitet hat, hat sich den Aufstieg und letztlich die Rente "verdient". Klingbeil bedient damit Aufstiegsmythen, als sei Vieles nicht von glücklichen Umständen abhängig. Woran wird darüber hinaus "hart" zu arbeiten festgemacht, muss man das sehen können, müssen sich die Leute sichtbar quälen? 
Klingbeil bedient mit dieser Sprache Vorurteile, weil sie nahelegen, es könne ohne weiteres bestimmt werden, was "hart" zu arbeiten auszeichnet. Dabei ist "harte" Arbeit eben nicht ohne weiteres sichtbar. Der Beruf des Lehrers wird hierzu häufig nicht gezählt, der des Erziehers ebensowenig, Sachbearabeitung in der Verwaltung wohl auch eher nicht, wenn man an die Vorurteile denkt - es könnten noch andere aufgezählt werden. Arbeiten etwa Softwareentwickler hart, die hocken doch nur am Computer und tippen?!
Wer was als "hart" beurteilt, ist eine ganz andere Frage, man muss sich nur entsprechende Gespräche über andere Berufsgruppen anhören, in denen leichtfertig über die "low performer" gesprochen wird, die die Leistungsträger nur behindern.
À propos - ganz vergessen wird natürlich, diejenige Leistung, die nicht in Erwerbsarbeit erbracht wird, also die sogenannte "unbezahlte Arbeit", aber die ist ja nur ein Hobby.

Sascha Liebermann

15. August 2025

"Sogar 'die' Griechen arbeiten mehr als 'die' Deutschen?...

... Und schon geht sie (wieder) los, die Debatte, dass wir mehr und länger und überhaupt arbeiten sollen müssen" - ein Beitrag von Stefan Sell zur wiederkehrenden Debatte um - wie er treffend schreibt - politisierte Arbeitszeitvergleiche. 

Dass mit statistischen Daten nach- bis fahrlässig umgegangen wird, ist zwar keine Neuigkeit, aber ein anhaltendes Problem, weil damit ernsthafte Fragen und Diskussionen erschwert werden. Sell weist zurecht auf die Bedeutung von Sorgetätigkeiten hin, die in der Forderung nach erhöhten Erwerbsarbeitszeiten in der Regel keine Rolle spielt, so als erledigten sich diese Aufgaben von alleine.

Eines lässt sich in den schiefen Arbeitszeitvergleichen dann doch erkennen, und zwar die Vorstellung, es komme darauf an, viel zu arbeiten, also viele Stunden, weil viel macht viel. Seit Jahren wird der Zuwachs an Arbeitsstunden gefeiert und als Erfolg verkauft von Politikern und in Talkshows, häufig ohne weitere Differenzierung.

Siehe unsere früheren Beiträge zu diesem Themenkomplex hier, zu Sorgetätigkeiten, also "unbezahlter Arbeit" hier.

Sascha Liebermann

14. August 2025

"Soziale Integration" andersherum

Siehe unsere früheren Beiträge dazu hier