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3. November 2023

Der "Arbeitsanreiz" als eindimensionale Erklärung...

...dafür, welche Auswirkungen ein komplexes und in mancher Hinsicht intransparentes System von Sozialleistungen haben könnte. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium der Finanzen hat diesen Oktober eine Stellungnahme zur Reform der Grundsicherung vorgelegt und sich darin das Zusammenwirken verschiedener Leistungen angeschaut. Bekanntermaßen ist das Leistungsgefüge äußerst komplex, unübersichtlich und uneinheitlich. Uns soll hier aber nur interessieren, wie eindimensional über die Wirkungen von Leistungen darin gesprochen wird. Exemplarisch dafür ist folgende Passage:

"Das Bürgergeld bietet durch die Hinzuverdienstregelungen Anreize, eine Arbeit aufzunehmen. Der Anreiz, die Arbeitszeit zu erhöhen bzw. sich weiter zu qualifizieren, ist hier jedoch ab einem Bruttoeinkommen von 1.200 Euro ohne Kinder und 1.500 Euro mit Kindern nicht mehr gegeben, da dann sämtliche zusätzliche Einkommen mit dem Bürgergeld verrechnet werden. Dafür bietet knapp jenseits dieser Einkommensgrenzen das zweite Grundsicherungssystem weitere Arbeitsanreize, da hier das Nettoeinkommen mit dem Bruttoeinkommen erst einmal deutlich ansteigt. Allerdings bedingen die Anrechnungsregelungen für Wohngeld und Kinderzuschlag auch hier erneut weite Einkommensintervalle, in denen Arbeitsanreize entweder gar nicht (mit Transferentzugsraten von z.T. über 100 Prozent) oder nur in geringem Ausmaß vorhanden sind. Abbildung 1 zeigt dies exemplarisch durch den Ausweis der Bereiche, in denen die Grenzbelastung aus Sozialversicherungsbeiträgen, Lohnsteuern und Transferentzug für Haushalte bei über 85 Prozent liegt (in rot) und somit die Arbeitsanreize besonders gering sind." (Stellungnahme S. 16)

Wie in so vielen Stellungnahmen zu dieser Frage kreist die Erörterung der Zusammenhänge um eine einzige Dimension, und zwar die, ob und ab wann es sich "lohnt" einer Erwerbstätigkeit nachzugehen und wann das nicht mehr der Fall ist. "Lohnt" es sich, heißt in größter Vereinfachung, wann erhalte ich mehr Geld, also, was bringt mir das, um es ganz salopp auszudrücken.

Trotz aller Forschungen (z.B. hier, siehe die differenzierte Betrachtung zu "Anreiz" hier), die schon vor langem deutlich gemacht haben, dass diese Frage nicht so eindimensional gestellt und beantwortet werden kann, wird sie genauso eindimensional weiterhin gestellt. Fragen danach, inwiefern Erwerbstätigkeit erfüllend, für einen sinnvoll, eine Möglichkeit mitzuwirken und -zugestalten ist, werden hier nicht einmal in Betracht gezogen. Ausgegangen wird von der einfachsten Form eines Wirkmechanismus. Dabei gibt es selbst dort, wo der Begriff Anreiz ebenfalls Verwendung findet, so in der Motivationspsychologie oder der pädagogischen Psychologie differenziertere Betrachtung, die deutlich machen, dass es nicht um ein Ursache-Wirkungsverhältnis geht, das entlang einer Dimension gilt Man beachte, wo der "Anreiz" bei Walter Edelmann verortet wird und welchen Stellenwert er hat:

Er hat hier gerade nicht die Bedeutung, als Stimulus extrinsisch auf das Individuum zu wirken und etwa direkt zu bewirken, sondern gehört auf die Seite intrinsischer Anstöße oder Impulse. Interessant ist in diesem Verständnis auch, dass die Seite extrinsischer Motivation nicht der Ausgangspunkt von Handeln ist, sondern es nur verstärken kann. Es muss also ein Passungsverhältnis zwsichen intrinsischer und extrinsischer Motivation, um in Edelmanns Worten zu sprechen, geben, damit überhaupt etwas geschieht. Davon ist in der Passage oben keine Rede. Darüber hinaus wirkt der "Anreiz" gerade nicht von außen ein, er ist vielmehr innen, gehört zur Charakterformation der Person, wenn man das so nennen will. Die Wirkungen von außen sind also begrenzt.

Nichts nötigt dazu, die sozialmechanische Auffassung des Wissenschaftlichen Beirats vorauszusetzen, außer dieser beschränkt sich selbst auf eine solche Verkürzung. Hierzu ließe sich noch manches sagen, dazu gehört auch, dass der Begriff "Anreiz" von seiner Semantik solche Missverständnisse durchaus befördert, weswegen er nicht geeignet ist, die Entstehung von Handeln zu erklären. Autoren wie Deci und Ryan verwenden ihn ebenso wenig in ihrer psychologischen Theorie der Selbstbestimmung und erlauben damit eine erheblich differenziertere Betrachtung der Zusammenhänge.

Frühere Beiträge von uns zur Kritik an der vereinfachten Argumentation mit "Anreizen" finden Sie hier.

Sascha Liebermann

28. Juli 2022

Gutachten zum Bedingungslosen Grundeinkommen - historisch fragwürdige Vergleiche und Ungenauigkeiten

Nachdem wir heute schon einmal auf das im vergangenen September vorgelegte Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen zum Bedingungslosen Grundeinkommen hingewiesen habe, das schon von verschiedener Seite kritisiert wurde (siehe hier), sei hier noch ein Hinweis diesbezüglich gegeben. Erstaunlich in diesem Gutachten sind die vielen Ungenauigkeiten sei es bezüglich der Definition eines BGE, seien es historische Vergleiche, die gezogen werden, z. B. mit der DDR, sei es die Einordnung, wer denn ein solches fordere oder wer die bekanntesten Vertreter seien. Anekdotisch sei hier bemerkt, dass ich diese Erfahrung, in der DDR habe es ja so etwas wie ein Grundeinkommen gegeben, selbst mit Diskutanten schon gemacht habe, die den größten Teil ihres Lebens dort verbrachten (siehe hier). Das Netzwerk Grundeinkommen hat einige davon dankenswerterweise kommentiert (siehe hier), wenn ich auch nicht alle Einwände teilen würde.

Wenn wissenschaftliche Expertise dazu beitragen soll, politische Entscheidungsträger über Zusammenhänge zu informieren, und ihnen so eine Urteilsbildung zu ermöglichen, wäre besonders wert daraufzulegen, keine fragwürdigen Vergleiche zu bemühen, normative Bewertungen offenzulegen und sich aus der Frage, was die "richtige" Entscheidung wäre, herauszuhalten.

Sascha Liebermann


9. Mai 2022

"Pressemitteilung: Gutachten gegen BGE ist unseriös und unwissenschaftlich"...

...eine Broschüre, die sich mit den Aussagen des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Finanzen zum Grundeinkommen befasst, hat das Netzwerk Grundeinkommen nun zur Verfügung gestellt.

Siehe unsere früheren Beiträge zu diesem Gutachten hier und hier.

25. November 2021

"Nicht finanzierbar" - nach welchen Annahmen? -...

...schreiben dieselben Autoren - Andreas Peichl, Ronnie Schöb, Christian Althoff und Alfons Weichenrieder -, die schon im September in der Wirtschaftswoche eine Replik auf Thomas Straubhaar verfasst hatten, nun über ein Bedingungsloses Grundeinkommen in der taz. Kommentare zu Annahmen, auf denen das Gutachten beruht, finden Sie hier.

Der taz-Beitrag beginnt schon mit der Ungenauigkeit, dass ein BGE alle sozialstaatlichen Leistungen ersetzen solle - ohne dass gesagt wird, wer das vertrete. Kaum jemand. Ein BGE sei ein Scheinriese, der nicht funktioniere, dafür berufen sich die Autoren auf das Gutachten, an dem sie mitgewirkt haben. Das "Gießkannenprinzip" sei das Problem, doch weshalb? Außerdem - haben wir ein solches nicht schon, teils realisiert im Grundfreibetrag in der Einkommensteuer und anderen Freibeträgen? Die mangelnde Zielgenauigkeit wird beklagt, nun, hier stellt sich aber eine Grundsatzfrage: will man den Anteil an Pauschalen erhöhen, um das Verfahren zu vereinfachen und in jeden Fall die Bürger damit zu erreichen oder will man detaillierte Einzelfeststellungen, für die Kriterien festgelegt werden, die die Eintrittsschwelle erhöhen (Stichwort verdeckte Armut) oder will man ein Mischsystem? Ein BGE wäre eine Pauschale, dadurch leicht verständlich, schwellenlos, weil es nur eines Aufenthaltsstatus bedürfte, für jeden nachvollziehbar, einfach zu verwalten (weil schlicht ausbezahlt). Im Gegenzug können Leistungen wegfallen, die genau dem Umfang eines eingeführten BGE entsprechen. Das ist zielgenau in dem Sinne, als es die Existenzsicherung auf ein verlässliches Fundament stellt, sie immer verfügbar ist für den Einzelnen und dadurch Handlungsspielräume eröffnet. Für Ansprüche, die über ein BGE hinausgehen, z. B. für Menschen mit Behinderung, aber auch etwaige Wohngeldleistungen aufgrund hoher Mieten (was für Einpersonenhaushalte mit BGE sich anders darstellt als für Mehrpersonenhaushalte).

Sicher lässt sich auch über ein regional gestaffeltes BGE nachdenken, doch das macht die Sache wieder aufwendig, weil dafür Kriterien definiert werden müssen. An einer Stelle heißt es:

"Beim BGE kommt es nicht auf die Familiengröße an, beim Bedarf jedoch sehr wohl. So braucht ein Zweipersonenhaushalt keine zweite Küche und kein zweites Badezimmer. Die beim Arbeitslosengeld II übernommenen Kosten der Unterkunft berücksichtigen das ebenso wie das Wohngeld. Anders das BGE: Es behandelt ein Paar, als hätte jeder Partner eine eigene Wohnung. Es zahlt damit deutlich mehr, als notwendig ist, um den Wohnbedarf abzudecken. Wichtige Informationen zur Bedürftigkeit werden ignoriert."

Ein BGE wirft gerade die Frage auf, wie wir Bedarfe und Bedürftigkeit verstehen und wie wir ihnen begegnen wollen. Was ein Zweipersonenhaushalt "braucht", hätte er selbst zu entscheiden. Die Autoren nehmen das bestehende System als Maßstab, geradezu als Ideal, und attestieren einem BGE hier Versagen.  Weshalb sollte das Vorhandensein eines Einkommenspuffers, so könnte man ein BGE auch verstehen, nicht wünschenswert sein? Es verschafft verlässliche Kaufkraft wofür auch immer. 

Die Autoren führen eine Besonderheit ein - Abschaffung aller Sozialleistungen -, um dann dagegen verfassungsrechtliche Bedenken anzumelden, eine Art petitio principii. Dass es verfassungsrechtlichen Regelungsbedarf gäbe, ist von anderen ebenso schon festgestellt worden, das widerspricht einer Einführung aber keineswegs, hier ist der Gesetzgeber gefordert. Interessant ist dann, dass die Autoren meinen, das entsprechende Änderungen eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderten, und das  womöglich schon der "Todesstoß" für das Vorhaben sei. Kann sein, kann auch nicht sein - das hängt von der Willensbildung ab. Ist es die Aufgabe von Ökonomen das zu beurteilen? Sicher, eine Meinung haben kann jeder.

Zuletzt weisen die Autoren noch darauf hin, dass das Sozialbudget nicht einfach zur Finanzierung herangezogen werden könne, das ist in der Debatte bekannt. Allerdings greifen sie zu kurz, wenn bestimmte Dinge auch nicht in Frage gestellt werden. Pensions- und Rentenansprüche sind Eigentumsansprüche, das ist richtig, wie diese Ansprüche bedient werden, ist damit aber nicht in Stein gemeißelt. Ein BGE würde in seiner Betragshöhe diese Ansprüche anteilig bedienen können. Angesichts der durchschnittlichen Rentenzahlbeträge wäre das ein ziemlich großer Anteil (siehe Deutsche Rentenversichung, in diesem Dokument S. 34). Wenn das nicht berücksichtigt wird, haben Finanzierungsrechnungen alleine deswegen schon Schlagseite.

Andere Aspekte in dem Beitrag spare ich aus, da ich sie schon früher kommentiert habe, siehe hier.

Sascha Liebermann

22. September 2021

"Eine Grundsicherung, die keiner will" - eine Antwort auf Thomas Straubhaars Beitrag und eine Reihe Behauptungen...

....von Andreas Peichl, Ronnie Schöb, Christian Waldhoff und Alfons Weichenrieder in der Wirtschaftswoche.

Die Autoren antworten auf einen Beitrag Thomas Straubhaars, in dem er sich zur Machbarkeit eine BGEs zustimmend äußerte, denn sie teilen diese Einschätzung nicht. Hintergrund der Diskussion ist das kürzlich veröffentliche Gutachten "Bedingungsloses Grundeinkommen" des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen. Zu den Details der Simulationsmodelle, die zur Beantwortung der Finanzierungsfrage eingesetzt wurden, kann ich mich nicht äußern. Manche Behauptung im Beitrag wirft allerdings Fragen auf, die dann auch wieder an das Gutachten zu richten sind. So heißt es an einer Stelle:

"Die Grenzbelastung des Einkommens steigt sehr wohl durch das bedingungslose Geldverschenken mit der Gießkanne. Und die Grenzbelastung ist für die Finanzierbarkeit entscheidend. Während sich gegen den Bezug des BGE niemand wehren wird, führen die hohen Grenzsteuerbelastungen durch das BGE dazu, dass sich die Steuerzahler händeringend nach Ausweichreaktionen umsehen. Weil die negative Steuer bedingungslos gewährt wird, während man der positiven Steuer ausweichen kann, bricht die Logik des einfachen Gedankenexperiments von Straubhaar in sich zusammen."

"Geldverschenken mit der Gießkanne" ist keine nüchterne Betrachtung dessen, worum es geht, sondern eine normative Einschätzung, denn beim BGE geht es um einen Rechtsanspruch und nicht um Geschenke.

Die negative Konnotation, die der Rede von der Gießkanne innewohnt im Sinne einer Gleichmacherei, deutet hier schon eine Richtung an. Auch die Rede davon, sich gegen etwa zu wehren, ist doch ein Griff in die rhetorische Trickkiste, denn gegen Gesetze, ein solches müsste die Bereitstellung regeln, kann man sich nur ernsthaft wenden, indem man versucht dagegen mit Argumenten zu mobilisieren und Mehrheiten zu gewinnen. Dass angesichts der simulierten "hohen Grenzsteuerbelastungen" "Steuerzahler [...] nach Ausweichreaktionen umsehen", dazu würde man doch gerne die Grundlagen wissen. Da mit dem BGE zugleich ein Einkommen bereitgestellt wird, stellt sich die Grenzbelastung anders dar, als wenn kein BGE bereitgestellt würde. Das ist ein ziemlicher Unterschied. Auf welche Basis, wenn nicht einem der üblichen Anreizmodelle, wird dann auf die Ausweichreaktionen geschlossen? Wie ist es möglich, der positiven Steuer auszuweichen und zugleich ein BGE zu beziehen? Das setzte doch voraus, dass ein BGE in jedem Fall unter allen Umständen auch bei dauerhaftem Aufenthalt im Ausland bezogen werden kann oder wie könnte das sonst gemeint sein? Wieso gehen die Autoren davon aus? Wer vertritt ein solches Konzept? Straubhaar etwa? Dann bezöge es sich nur auf seinen Vorschlag, keineswegs aber auf ein BGE im allgemeinen.

An anderer Stelle heißt es:

"Die sehr hohen Grenzbelastungen des Einkommens, die bei Einführung eines BGE selbst ohne Verhaltensänderungen zur Finanzierung notwendig wären, resultieren auch daraus, dass – anders als von Befürwortern eines BGE mitunter suggeriert wird – nicht alle Positionen des Sozialbudgets zur Gegenfinanzierung verwendet werden können."

Welche "Befürworter", die hier ganz pauschal benannt werden, vertreten denn so etwas? Auch diese Behauptung gilt bestenfalls für bestimmte Vorschläge, nicht aber für ein BGE im allgemeinen.

Weiter heißt es:

"Gleiches gilt für Renten- und Pensionszahlungen. Hier handelt es sich um Ansprüche mit eigentumsrechtlichem Charakter. Würde man wiederum den Erhalt des BGE an den freiwilligen Verzicht der Rente oder Pension knüpfen, wäre es ganz offensichtlich kein bedingungsloses Grundeinkommen."

Hier geht zweierlei durcheinander und es tritt eine eigenwillige Definition von "bedingungslos" zutage. Die Autoren hätten sich hier leicht kundig machen können, denn mit dem Attribut wird in der Regel in vielen Definitionen Bezug darauf genommen, dass ein Individuum bei Bezug eines BGE keine verpflichtenden Gegenleistungen zu erbringen hat, auch nicht als Voraussetzung für den Bezug. Gar nichts hat das Attribut damit zu tun, dass es nicht politisch gewollte Umgestaltungen sozialstaatlicher Sicherungssysteme geben könnte, es ist nur offen, in welchem Ausmaß. Wenn an den Eigentumsansprüchen nicht gerüttelt würde, wäre es dennoch möglich, den einem BGE entsprechenden Anteil in diese Ansprüche zu integrieren, so dass also die Renten- und Pensionsansprüche anteilig mit dem BGE bedient werden.

Und weiter: 

"Damit es überall existenzsichernd ist, muss es daher einer Bremerin so viel zahlen, dass sie sich auch in München eine Wohnung leisten könnte. Und das BGE ignoriert auch die Haushaltsgröße. Paare bekommen genauso viel wie zwei Singles mit viel höheren Wohnkosten. Diese Ignoranz macht es teurer."

Wessen Ignoranz? Die der Autoren oder "der Befürworter"? Wer sich ein wenig mit der BGE-Diskussion beschäftigt, wird darum wissen, dass die Frage, ob es ein regional angepasstes BGE geben sollte oder nicht, eine der Standardfragen ist. Da die Bereitstellung eines BGEs keineswegs ausschließt, noch Wohngeld vorzuhalten, würde die Frage schon beantworten. Und in der Tat hängen die Möglichkeiten, die es schafft, von der Kaufkraft ab, die mit einem dann zu definierenden Betrag gegeben wäre. Es stellt sich aber, das räumen die Autoren ein, die Lage für Mehrpersonenhaushalte ganz anders dar als für Einpersonenhaushalte. Eben, die einen bräuchten womöglich Wohngeld, die anderen nicht. Das ist ein Gemeinplatz in der Debatte.

"Ein weiterer Aspekt, den Verfechter eines existenzsichernden BGE gerne vernachlässigen, ist bei den Berechnungen des Beiratsgutachtens noch gar nicht enthalten. Es ist aber von eminenter Bedeutung: die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa. Ein existenzsicherndes Grundeinkommen dürfte ein Magnet für einkommensschwächere EU-Bürger darstellen. Umgekehrt: Viele Leistungsträger, die das BGE zu finanzieren haben, werden sich in andere EU-Länder verabschieden."

Ist das ernst gemeint? Diese Frage ist eine Selbstverständlichkeit in der BGE-Diskussion, national wie international. Dass manche Befürworter sie übersehen mögen, sei dahingestellt, aber die Debatte im allgemeinen, wie die pauschale Redeweise unterstellt, ist ein ziemlich erstaunliches Statement.

Es mag weit hergeholt sein, doch wenn das Gutachten, das hier zur Diskussion steht, ähnlich präzise ist, wie die Ausführungen in dem Beitrag, dann wäre der Ertrag für die Debatte nicht erheblich. Wozu werden solche Pappkameraden aufgerichtet? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass in diese "Analyse" erhebliche Werturteile bzw. spezifische Annahmen Eingang gefunden haben.

Siehe unsere früheren Kommentare zur Debatte hier.

Sascha Liebermann

16. September 2021

Stefan Bach hat naheliegende Fragen an das Gutachten "Bedingungsloses Grundeinkommen"

Andere Stimmen zum Gutachten des BMF zum Bedingungslosen Grundeinkommen

Andere Stimmen zum Gutachten des BMF zum Bedingungslosen Grundeinkommen

Nachtrag Gutachten "Bedingungsloses Grundeinkommen" - Engführung der Studie und Prämissen

In den Schlussbetrachtungen des gestern verlinkten Gutachtens wird das Ergebnis zusammengefasst. Auf dem Weg dorthin werden verschiedene Fragen aufgegriffen, die mittelbar mit der Finanzierungsfrage zusammenhängen, andere werden nicht verhandelt. Angesichts der differenzierten nationalen wie internationalen BGE-Diskussion, deren Literatur teils hinzugezogen wurde - so die Übersichtsarbeit von Van Parijs und Vanderborght, aber auch Standing - verwundern doch die vereinfachenden Bemerkungen zur Freizügigkeit in der Europäischen Union, als sei es nicht etwa der Nationalstaat, der die Sozialpolitik und damit Bezugsbedingungen für ein BGE definiere. Die Frage der Zuwanderung ist ständig Thema in BGE-Diskussionen und keineswegs unbeantwortet geblieben.

Im Schlusswort heißt es, ein BGE widerspreche dem Subsidiaritätsgedanken, dabei setzt diese Aussage eine bestimmte Deutung von Subsidiarität voraus, die nicht einfach vorausgesetzt werden sollte. Zieht man für die Beantwortung der Frage, was den Subsidiaritätsgedanken auszeichnet, die berühmte Passage aus der Enzyklika "Quadragesimo Anno" sowie eine Rekonstruktion des Subsidiaritätsgedankens von Ottfried Höffe heran, dann lässt sich die Idee weiter auslegen und keineswegs so, dass sie sozialstaatliche Leistungen ausschließt.

Vielmehr lässt sich dann erkennen, dass der Sozialstaat die Selbstbestimmung der Lebenspraxis nicht schwächen darf. Das heutige Erwerbsgebot tut dies aber. Insofern ist die Passage in der Enzyklika  ausgesprochen fortschrittlich, denn die Existenzsicherung könnte anders gestaltet werden, so dass die bevormundenden und auf Erwerbstätigkeit hin normierenden Leistungen aufgegeben werden. Das führt wiederum zum BGE. An einer Stelle heißt es entsprechend:

"Das BGE definiert ausschließlich Rechte gegenüber der Gesellschaft: Wenn jeder Bürger zum Sozialhilfeempfänger wird, ist die Pflicht zur Selbsthilfe abgeschafft. Das dem bestehenden Sozialstaat in-newohnende Solidarprinzip wird so einseitig zugunsten eines unbedingten Anspruchs des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft aufgegeben. Die Stärkung der gesellschaftlichen Solidarität durch ein BGE ist damit mehr als fraglich."

Schon in den ersten Sätzen wird deutlich, dass Selbsthilfe offenbar vor allem Einkommenserzielung bedeutet. Eine dem Selbstverständnis einer modernen Demokratie entsprechenden Lebensführung jedoch verlangt dem Einzelnen in jeder Hinsicht ab, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen, also Entscheidungen zu treffen, Einkommenserzielung ist nur eine unter anderen. Dass diese Selbstbestimmung ohne Gemeinschaft nicht zu haben ist, weil die Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung nur im Schoße der Gemeinschaft sich herausbilden, was mit der Bewältigung der Adoleszenzkrise zu einer Gemeinwohlbindung führt, scheint ein vollkommen fremder Gedanke zu sein. Die Frage danach, wie der Einzelne einen Beitrag zum Wohlergehen des Ganzen leisten kann, wozu neben anderen Aufgaben auch Erwerbstätigkeit gehört, stellt sich mit einem BGE genauso wie heute, lediglich wird der Stellenwert von Erwerbstätigkeit durch ein BGE angemessen eingeordnet in die Breite der Lebensführung. Ein BGE vereinseitigt also keineswegs den Solidaritätsgedanken, es stellt ihn vielmehr in die umfassenden Bezüge und macht deutlich, wie stark individuelle Selbstbestimmung vom Gemeinwesen abhängt und davon, dass alle sich die Frage stellen, wie sie beitragen können, dazu gehört auch "unbezahlte Arbeit", die im Gutachten wiederum keine Erwähnung findet.

Im Indikativ und nicht im Konjunktiv wird über Folgen eines BGE für das Arbeitsangebot gesprochen. Es reduziere sich, obwohl das Gutachten zumindest einräumt, es könne auch anders sein, wenn man Befürwortern folge. Ein Simulationsmodell, auf das sich das Gutachten bezieht, kann nur konjunktivische Aussagen bzw. ceteris paribus-Aussagen treffen, von daher stellt sich die Frage, die sich bei solchen Modellierungen immer stellt: auf Basis welcher Annahmen sind sie geschehen? Werden die Folgen eines BGE für Leistungsbereitschaft und entsprechend Produktivität ermittelt? Wird Zufriedenheit einbezogen, die sich verändern könnte? Das Arbeitsangebot alleine entscheidet nicht über die Leistung, weil ein erheblicher Teil der Leistung von Maschinen erbracht wird, wird das einbezogen? Wird das Automatisierungspotential ermittelt? All diesen Fragen wurde offenbar nicht nachgegangen, da sich das Gutachten auf die Finanzierung beschränke. Nun hängt aber die Frage der Finanzierung an den anderen Fragen dran, wie können sie dann außer Acht gelassen werden? Auf S. 39 f. heißt es abschließend:

"Die Finanzierungsprobleme sprechen aus Sicht des Beirats eindeutig gegen die Einführung eines BGE. Der Verzicht, Sozialleistungen von einer durch staatliche Institutionen zu überprüfenden Bedürftigkeit abhängig zu machen, führt nicht nur zu substantiellen Steuererhöhungen. Es wird in der Quintessenz zudem dazu führen, dass die Kontrolle derjenigen, die mit ihren Arbeitseinkommen das BGE finanzieren, massiv ausgedehnt werden muss. Höhere Steuern lassen eine Auswanderung vieler Leistungsträger erwarten und erschweren damit die Finanzierbarkeit eines BGE zusätzlich. In einer offenen Gesellschaft ist ein individuelles, bedingungsloses und in seiner Höhe existenzsicherndes BGE aus Sicht des Beirats daher nicht umsetzbar."

Weshalb dient nur Arbeitseinkommen zur Finanzierung? Weshalb müsse die Kontrolle ausgedehnt werden? Wo Steuern erhoben werden, muss es immer Kontrollen geben, um das Umgehen von Steuern verfolgen zu können. Hier scheint ein Schreckgespenst aufgebaut, das trivial und nur um den Preis zu vermeiden ist, das Steuern zu freiwilligen Zahlungen umdeklariert werden. Es wird nur von Steuererhöhungen gesprochen, nicht aber darüber, was durch die Steuern wieder bei den Bürgern landet, und zwar das BGE. Ob Leistungsträger deswegen das Land verlassen würden, ist doch fraglich, zumal nicht vergessen werden darf, was die im Gutachten nicht berücksichtigen Fragen für das Leistungsgeschehen bedeuten. Wieso spricht ein BGE gegen eine offene Gesellschaft? Ist es etwa heute so, dass jeder nach Deutschland kommen und alle Sozialleistungen in Anspruch nehmen könne? Gibt es keinen Unterschied zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern? Wie soll ein derart vereinfachendes Gutachten ernstgenommen werden? Allenfalls der Vereinfachungen wegen sollte es Beachtung finden, weil die Vereinfachungen deutlich machen, weshalb bestimmte Diskussionen so geführt werden, wie sie geführt werden.

Sascha Liebermann

15. September 2021

Gutachten "Bedingungsloses Grundeinkommen"...

 ...des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium der Finanzen steht nun online zur Verfügung. Vor einigen Wochen ging die Meldung über ein Gutachten durch die Presse, das zeige, weshalb ein BGE nicht finanzierbar sei. Wir hatten hier darüber berichtet, siehe auch den Hinweis hier.


13. September 2021

"Warum das Grundeinkommen sehr wohl finanzierbar ist"...

 ...legt Thomas Straubhaar in der Wirtschaftswoche dar und antwortet damit auf die Meldung, laut einer Studie des Bundesministeriums der Finanzen sei ein BGE nicht finanzierbar. Diese Meldung hatten wir auch kommentiert, siehe hier.

Ähnlich wie Straubhaar hier hatte einst Gregory Mankiw argumentiert, siehe hier. In dieser Frage sei auch an die umfangreichen Arbeiten Helmut Pelzers erinnert, der sich über Jahrzehnte mit der Finanzierung beschäftigt hat.

Sascha Liebermann

3. September 2021

"Warnmeldung vor Falschmeldung" - ein Kommentar von Ronald Blaschke zum ifo-Forschungsbericht und zum Stellenwert von Mikrosimulationen

In seinem Kommentar stellt Ronald Blaschke berechtigte Fragen an den Bericht aus dem ifo-institut und formuliert wichtige Anmerkungen. Dazu gehören auch solche zu den eingesetzten Methoden. Dass die Autoren selbst die Grenzen ihrer Simulationsrechnung benennen, zeigt zumindest, dass ihnen diese Grenzen klar sein müssen. Wenn sie trotzdem zu Schlussfolgerungen gelangen, die keine Wirklichkeitsaussagen sind, diese aber als solche behandelt werden, kann man nur staunen. Das gehört allerdings zu den Eigenheiten in der vermeintlich empirischen Forschung, die nicht auf Realitäten, sondern auf Simulationen von Realitäten abhebt (siehe auch hierhier, hier und hier). Es handelt sich also, zugespitzt ausgedrückt, um eine empirielose Empirie, die in der politischen Planung als Hilfsmittel dienen kann, nicht aber für Tatsachenaussagen herhalten sollte.

Siehe unseren Kommentar zur Pressemeldung des BMF hier.

Sascha Liebermann

16. März 2020

"Ein Schutzschild für Beschäftigte und Unternehmen"? Ein Schutzschild für alle Bürger