17. Oktober 2024

"Sämtliche Sozialleistungen [...] würden wegfallen"...

...behauptet Till Requate, Professor für Volkswirtschaftslehre (Universität Kiel), im Interview mit focus. Was ihn zu dieser Einschätzung veranlasst, ist nicht zu erkennen. Sicher, es gibt in der Diskussion Befürworter, die solche Vorstellungen haben, doch das sind Befürworter unter anderen, die eine Beibehaltung sozialstaatlicher Transferleistungen "oberhalb" eines BGE vorsehen.

Milton Friedman taucht wieder auf und wird als Vorläufer einer "Art bedingungslose[n] Grundeinkommens dargestellt, doch genau das vertrat er nicht. Die Negative Einkommensteuer operiert auf anderer Grundlage, was Requate dann auch sagt, womit die Vorläuferschaft auch schon aufgehoben ist. Ein BGE kein "Geld fürs Nichtstun", wie auch hier wieder vom Gesprächspartner suggeriert wird.

Wer nun behauptet, ein BGE ersetze alle sozialstaatlichen Transferleistungen, muss zu folgender Überlegung gelangen:

"[focus]Und wo ist der Haken?

Unter anderem, dass das Existenzminimum durch diese Beträge in Städten wie München oder Frankfurt nicht abgedeckt wäre. Das Wohnen ist hier schlichtweg zu teuer. „Bedingungslos“ bedeutet aber: Der Erhalt dieses Geldes ist an keinerlei Bedingungen geknüpft. Sämtliche Sozialleistungen wie das Bürgergeld, die Grundsicherung im Alter, die Grundsicherung bei Erwerbsunfähigkeit, Fördergelder wie das BaföG, aber auch das Wohngeld würden wegfallen - unabhängig davon, wo man wohnt."

Wer nicht auf die Streichung aller Leistungen setzt, hätte das Problem nicht. Auch stellt sich die Lage für Haushalte mit mehreren Personen anders dar als für Alleinstehende. Insofern spricht Requate über eine bestimmte Ausgestaltung, nicht über das BGE im Allgemeinen.

Welche Lösung sieht er dafür?

"Es gibt tatsächlich Überlegungen, die in Richtung „bedingungsloses Grundeinkommen light“ gehen. Hier würde man es bei der alten Wohngeldregelung belassen. Das heißt, das Wohngeld wäre nicht bedingungslos. Alle anderen genannten Faktoren aber schon. Beim genannten Modell läge das Grundeinkommen bei 400 bis 450 Euro pro Kopf, für Kinder entsprechend niedriger."

Das Wohngeld wird in der Breite der Diskussion nicht zum BGE dazugerechnet, insofern ist das hier ein Pappkamerad, aber ganz konsequent, wenn man einmal mit der oben erwähnten Setzung begonnen hat. Auch ergibt sich daraus nicht, ein BGE light einzuführen, um Wohngeld beizubehalten, hier werden zwei Aspekte miteinander vermischt.

Dass ein BGE die Stigmatisierung von Leistungsbeziehern aufhebt und wirksam gegen verdeckte Armut wäre, sieht Till Requate auch. Einen weiteren Vorteil erkennt er hier:

"Des Weiteren liegt auf einen ersten Blick ein Vorteil darin, dass es für Geringverdiener attraktiver wäre, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. Momentan ist es ja so: Wer aus dem Bürgergeld rausfällt, weil er einen gering bezahlten Job annimmt, der hat kaum mehr im Portmonee. Das BGE würde hingegen nicht angetastet, wenn sich jemand etwas dazu verdient. Allerdings relativiert sich dieser Vorteil dadurch, dass das ganze System mit sehr hohen Steuersätzen auch auf den ersten Euro für Geringverdiener finanziert werden müsste."

Wie die Steuersätze genau aussehen würden, dazu gibt es verschiedene Simulationsversuche. In jedem Fall dienen die Steuern dazu, eine Leistung zu finanzieren, von der die Gemeinschaft etwas hat, und zwar gerade diejenigen mit niedrigen Einkommen. Wer ein solch verlässliches System für politisch richtig hält, hat keine andere Möglichkeit, als es über Steuern zu finanzieren.

Der vermeintliche Knackpunkt:

"Die Frage ist doch, wie das mit dem Dazuverdienen in der Realität aussehen würde. Auch hierzu hat man beim Ifo-Institut Erkenntnisse. Im Rahmen von Simulationen hat man sich angeschaut, wie die Leute ihr Arbeitsverhalten ändern würden."

Um einschätzen zu können, was aus diesen Simulationen geschlossen werden kann, muss man die Annahmen kennen, auf deren Basis simuliert wurde. Auf welche Studie er sich bezieht, wird leider nicht angegeben.

"Das Arbeitsangebot würde in Arbeitsstunden gerechnet um 25 bis 30 Prozent fallen, weil es sich für viele bei Steuersätzen von 90 Prozent und höher nicht mehr lohnt, zu arbeiten. Damit würden sich die Wirtschaftsleistung und somit auch die Steuereinnahmen drastisch reduzieren. Ein bedingungsloses Grundeinkommen, das das Existenzminimum sichern soll, wäre somit schlicht nicht finanzierbar!"

Welche Annahme wurde hier zugrundegelegt? Dass sich Erwerbstätigkeit "lohnen" muss, hier vermutlich beschränkt auf den Zugewinn in Gehaltsform. Welche Aspekte spielen dafür noch eine Rolle, dass jemand erwerbstätig wird? Wie ist es mit dem Interesse an einer Aufgabe, dem Wunsch, mitzugestalten in einem Unternehmen, der erfüllenden Seite, die Erwerbstätigkeit haben kann? Das wird hier nicht erwähnt, ist es dann etwa nicht simuliert worden? Dann wäre die ganze Simulation ziemlich vereinfacht und die Schlussfolgerungen ebenso.

Wie schätzt Requate die Verantwortungsbereitschaft von Eltern ein, was würden sie mit dem BGE wohl tun?

"Die Idee ist ja, dass die finanzielle Situation der Kinder unabhängig von der Erwerbsarbeit der Eltern sein soll. Das wird aber nur auf dem Papier so sein. Ob die Eltern Teile des BGE in Bildung oder gutes Essen investieren oder es böse gesagt verjubeln – das wird sich kaum kontrollieren lassen. Manches, was von Befürwortern der Idee als Vorteil gepriesen wird, sehe ich sogar eher als Nachteil."

Ja, das ist ja der Sinn der Sache, dass es sich nicht kontrollieren lässt, woher aber kommt die Sorge, Eltern könnten es nicht für ihre Kinder verwenden? Immerhin gibt es Studien dazu, die hätten konsultiert werden können. Oder bricht sich hier ein Vorurteil bzw. eine unberechtigte Befürchtung Bahn? Dann wäre das eine Meinung, mehr nicht.

Weiter heißt es:

"Für mich spricht vor allem nichts gegen ein Fördern und Fordern. Anreize zu Fortbildungen oder Weiterbildungsmaßnahmen sind doch begrüßenswert! Und denjenigen, denen die Gesellschaft Unterstützung gewährt, von denen kann auch etwas eingefordert werden."

Die Frage ist doch nicht, ob Fördern wünschenswert ist, sondern welcher Voraussetzungen es bedarf, damit eine Förderung auch erfolgreich sein kann. Ist das Fordern hier so zu verstehen, dass jemand eine Herausforderung annehmen kann, dann bedarf es der entsprechenden Unterstützung, damit er das kann. Ist mit Fordern jedoch gemeint, jemanden zu etwas zu drängen unter Androhung der Kürzung des Existenzminimums, stellt sich die Frage, wem das denn helfen soll? Weder hilft das der geforderten Person, die dem Druck nachgibt, um der Sanktionierung auszuweichen, noch hilft es der Gemeinschaft, die damit lediglich Anpassung erzwingt, nicht aber Leistungsbereitschaft unterstützt. Wenn hier von "Anreizen" gesprochen wird, verunklart das nur diesen Zusammenhang, denn sanktionsbewehrte Anreize sind Drohungen. Die Frage wäre hier doch, ob "etwas eingefordert werden" muss um jeden Preis oder ob Leistungsbezieher nicht ohnehin sich einbringen wollen, aber gewissen Hürden nehmen müssen und das nicht alleine können. Doch das wird in der Antwort nicht einmal differenziert.

Nicht fehlen darf eine Frage zum Arbeitsangebot:

"[focus] Sie hatten davon gesprochen, dass das bedingungslose Grundeinkommen dazu führt, dass die Menschen im Schnitt weniger arbeiten wollen. Was bedeutet das für den Fachkräftemangel?

Der würde sich natürlich massiv verstärken. Wie gesagt, die Stundenzahl, die die Menschen arbeiten wollten, würde sich je nach Szenario um 25 bis 30 Prozent verringern. Und diese Schätzungen sind eher konservativ, da die Simulationen des Ifo-Institut noch keine Migrationsbewegungen aus oder in das Ausland berücksichtigen. Tatsächlich ist jedoch damit zu rechnen, dass Niedrigqualifizierte aus ärmeren europäischen Staaten in ein solches System einwandern, während Hochqualifizierte das Land verlassen werden, wodurch der zu verteilende Kuchen sich noch weiter verkleinern würde. Das wäre in Anbetracht des Fachkräftemangels für unser Land eine Katastrophe!"

"Weniger" arbeiten zu wollen heißt ja nicht, dass weniger erzeugt wird, die Frage ist, ob sich durch ein BGE nicht die Arbeitsbedingungen verbessern. Abgesehen davon sind solche hypothetischen Abfragen, ob jemand denn seine Arbeitszeit reduzieren würde, nicht belastbar, es ist ein schlichtes Gedankenexperiment, das der Wirklichkeit mit BGE nicht entsprechen muss. Insofern sind alle Schlussfolgerungen nur vor dem Hintergrund der in der Studien getroffenen Annahmen zu beurteilen. Wenn aber die Bedingungen zur Leistungserstellung sich verbessern, weshalb sollten Fachkräfte dann abwandern?

Wie wenig die Bedeutung von Erwerbstätigkeit als Möglichkeit beizutragen und sich einer Aufgabe zu widmen betrachtet wird, zeigt auch folgende Antwort:

"[focus] Klingt so, als wäre das Ihr Hauptkritikpunkt. Passt das Modell nicht in die Zeit?

Naja, schauen wir uns das Selbstverständnis unserer Sozialen Marktwirtschaft an. Nach diesem Selbstverständnis ist jeder zunächst einmal selbst für seine Lebensunterhalt verantwortlich. Der Staat springt nur in Notfällen ein. Bei Jobverlust oder Krankheit etwa. Ein BGE würde dieses Prinzip um 180° drehen. Der Staat wäre zunächst für das Existenzminimum zuständig. Und wenn der oder die Einzelne dann noch Lust hat, kann sie oder er dann noch etwas arbeiten gehen."

Die politische Grundordnung spricht keineswegs davon, dass "jeder zunächst einmal selbst" für seinen Lebensunterhalt zu sorgen hat, der Sozialstaat ist lediglich so konstruiert worden. Er entspricht damit aber gerade nicht der Grundordnung (siehe hier und hier). Das Interesse an und die Bereitschaft zu Leistung zur Frage von "Lust" zu erheben, verkennt die Bedeutung, die sie haben. 

Ein weiteres Problem macht Requate aus:

"[Requate] Nun, stellen Sie sich vor, wir wären weiterhin ein Stamm von Jägern und Sammlern und wir hätten und auf ein bedingungsloses Grundeinkommen geeinigt. Und dann träte die Situation ein, dass keiner mehr jagen will. Wie will der Stamm dann sicherstellen, dass am Ende des Tages jeder sein Stück Fleisch auf dem Teller hat?"

Was sagen Sie?

Na gut, bei den Jägern und Sammlern bin ich noch vergleichsweise zuversichtlich. Bei einer vergleichsweise kleinen Gruppe würde wohl der Gruppendruck wirken. Aber in einer anonymen Gesellschaft? Nicht ohne Grund haben wir soziale Sicherungsnetze in unser System eingebaut. Für den Fall eines Unfalls, einer Krankheit, einer Firmenpleite und so weiter. Während eine kleine Gruppe dafür sorgen mag, dass alle zu Essen haben, ist bei einer Gruppe von 83 Millionen Menschen der Anreiz zum Trittbrettfahren bei einem bedingungslosen Grundeinkommen vergleichsweise groß."

Alleine schon das Beispiel spricht Bände: wir würde der Stamm das wohl sicherstellen können und was wäre dem denn vorausgegangen? Eine Gemeinschaft kann dann zerfallen, wenn ihr ihre Legitimität abhanden kommt, wenn die Angehörigen nicht mehr den Eindruck haben, in ihr so leben zu wollen und sie nicht mehr zu tragen bereit sind. Es bleibt dieser Gemeinschaft dann nur, diese Legitimität zurückzugewinnen, indem sie miteinander in Austausch tritt. Heute würden wir dafür öffentliche Debatten benötigen, wie es zur Demokratie gehört und wie es der Alltag ist. Außerdem würde für ein BGE gelten, dass es nicht mehr bereitgestellt werden könnte, wenn die Gemeinschaft nicht mehr beizutragen bereit ist - aber das gilt heute ebenso. "Gruppendruck" reicht nicht aus, wenn der Legitimationsglaube verloren gegangen ist, Druck ist äußerlich, es bedarf zum Erhalte eines Gemeinwesens einer Bereitschaft, sich an dieses Gemeinwesen zu binden und auch schlechtere Zeiten gemeinsam durchzustehen. Auch hier zieht Requate wieder den "Anreiz" aus der Tasche, weil er sich offenbar nicht vorstellen kann, dass die Gemeinwohlbindung im allgemeinen sehr belastbar und stabil ist. Der Anreizbegriff ist ein Taschenspielertrick, weil er im Unklaren lässt, worüber genau gesprochen wird (siehe oben).

Seine Einwände gegen das Pilotprojekt von Mein Grundeinkommen teile ich, würde sie aber auf Feldexperimente im allgemeinen ausdehnen (siehe hier, hier und hier).

Sascha Liebermann

"Leistung durch Erzwingung von Anpassung" - ein weltfremdes Vorhaben

"Gehorsam aus Angst" - wohin soll das noch führen?

8. Oktober 2024

1. Oktober 2024

"...muss den Sozialstaat neu aufstellen..."

..."Durch Einwanderung treten neue ideologische Auseinandersetzungen auf den Plan, andere bestanden schon oder werden verstärkt. Wer Ideologie in ihren tödlichen Zuspitzungen wirksam und an der Wurzel bekämpfen will – und ich nenne Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus ganz bewusst in einer Reihe –, muss den Sozialstaat neu aufstellen: weniger Transferleistungen. Mehr gezielte Leistungsanreize und starke öffentliche Institutionen.“ 

Das schreibt Wem Özdemir in seinem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - und man hat den Eindruck, obwohl er damit über das Thema seines Beitrags weit hinausgeht, er greife die Debatte über das Bürgergeld auf, in der wiederholt wilde Behauptungen aufgestellt wurden. Warum stellt er diesen Zusammenhang her, der keineswegs naheliegt.

Jonas Wagner (FAZ) kommentiert das auf Twitter:

Auf diesen Kommentar antwortet Lukas Weber (Bündnis 90/ Die Grünen) mit dem Verweis darauf, es gelte, die soziale Infrastruktur zu stärken:

Doch, was hat das eine mit dem anderen zu tun, worauf Wagner zurecht hinweist? 

Den "Sozialstaat" müsste man, will man die öffentliche Infratstruktur stärken, nicht "neu aufstellen", sondern lediglich verändern. Wenn es nur darum geht, mehr Sprachförderung usw. anzubieten und durchzuführen, bedarf es lediglich der Entscheidung dafür, es zu tun - damit sprengt man nicht den Rahmen des bestehenden Sozialstaats. Warum dann diesen Zusammenhang herstellen, der nicht weiter ausgeführt wird? Berücksichtigt man noch, dass der Vorschlag Ideologien an der Wurzel bekämpfen will, dann ist die Verknüpfung geradezu naiv. Ist der Autor der Auffassung, dass sich Vertreter solcher Ideologien, wie er sie eingeführt hat, durch reduzierte Transferleistungen beeindrucken lassen? Das klingt nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Modell, das aus der sozialpolitischen Debatte allzu geläufig ist. 

Sicher lässt sich manches an der Diskussion über Zuwanderung zu kritisieren, ihre Überhöhung ebenso wie ihre Verharmlosung, doch mit Transferleistungen hat das nichts zu tun. An anderen Stellen im Beitrag wird klarer, worum es Özdemir geht, doch das klärt nicht, weshalb er den Sozialstaat meint neu aufstellen zu müssen, um die von ihm als Problem identifizierten Ideologien zu bekämpfen. Özdemir schreibt im gleichen Absatz:

"Und wer als Migrant erlebt, dass Leistung anerkannt wird und zählt, Chancen ermöglicht werden und umgekehrt bewusste Integrationsverweigerung auch sanktioniert wird, wird verinnerlichen und akzeptieren, dass das Grundgesetz als Leitkultur die richtige und einzige Grundlage unseres Zusammenlebens ist."

Was haben Leistung und Integration miteinander zu tun? Welche Integration (siehe z. B. hier und hier)? 

Zweierlei wird in einen Topf geworfen: 1) Leistungsbereitschaft und die Möglichkeiten, sie zu entfalten. Dass für unser Verständnis von Leistungserbringung Leistungsbereitschaft die Voraussetzung ist, ist zwar trivial, wird aber in seiner Bedeutung häufig unterschätzt. Leistungsbereitschaft ist das Ergebnis eines langen, sozialisatorischen Bildungsprozesses und kann nicht auf anderem Wege herbeigeführt werden. Wer das will, muss sich also die Frage stellen, welche Bedingungen des Aufwachsens benötigen Kinder, damit eine solche Leistungsbereitschaft entstehen kann. Dazu ist es unerlässlich den kindlichen Bildungsprozess in seinen Eigenheiten zu beachten und ihn nicht durch die Brille der Erwachsenen zu betrachten (siehe z. B. hier und hier). Dann bedarf es, ist sie einmal ausgebildet, der Bedingungen, damit sie sich ihren Weg suchen kann im Leben, auch im Berufsleben. Aber: es handelt sich hier immer darum, die Person an der Leistung zu beurteilen, es geht nicht um die Person um ihrer selbst willen, wenn wir über den Beruf sprechen. Eine Integration von Einwanderern bezogen auf dieses Verständnis ist etwas ganz anderes als: 2) Loyalität als Bindung an ein Gemeinwesen und seine von ihm selbst gestaltete Ordnung. Wie in 1) gilt auch hier, dass sich eine solche Bindung für diejenigen, die in Deutschland geboren oder als Kleinkind eingewandert sind, durch den Prozess der Sozialisation herausbilden. Wer einwandert, ist diesbezüglich in einer ganz anderen Situation als derjenige, der hier geboren wird, sofern die Einwanderung nach der Adoleszenz erfolgt. Davon einmal abgesehen geht es im Unterschied zu 1) bei dieser Integration, wenn wir den Begriff beibehalten wollen, um die Integration der Person um ihrer selbst willen, weil sie dem Gemeinwesen angehört. Sie wird nicht an Leistung gemessen, sondern wird - als Staatsbürger - zum Träger der Ordnung. Wer also darauf zielt, muss zum einen Möglichkeiten für eine solche "Verwurzelung", für ein Sesshaftwerden und eine Bindung an das Gemeinwesen schaffen und Zuwanderern den Stellenwert, den das Gemeinwesen hat, vorleben. Grundsätzlich muss er darauf vertrauen, dass jemand der zuwandert, bereit ist, auf dieses Gemeinwesen einzulassen (Böckenförde-Diktum). Zum anderen muss er bereit sein, Verletzungen der Regeln zu sanktionieren, aber erst dann, wenn sie geschehen und nicht präventiv mit dem Verdacht, dass sie ohnehin verletzt werden. Er muss vor allem ein klares Verständnis davon haben, wie zugewandert werden kann und verschiedene Formen klar unterscheiden. Gerade bezüglich dieser Zusammenhänge liegt aber manches im Argen, denn dazu bedarf es einer selbstverständlichen, klaren und gelassenen Bindung an das eigene Gemeinwesen, zu der es auch gehört, wo nötig, Kritik zu üben, Vorschläge zur Verbesserung zu erwägen und sich selbst dafür einzusetzen - und zwar gemäß der Ordnung, wie sie besteht als republikanische Demokratie. Genau diesbezüglich - so meine Einschätzung - liegt aber manches im Argen, man schaue sich nur die Sozialpolitik an, dann erhält man einen Eindruck davon.

Was Özdemir heraushebt ist nun, dass eine Integration im Sinn von 1) zu einer Integration im Sinne von 2) führt, wenn denn nur 1) richtig gelebt wird. Man kann jedoch sehr wohl 1) folgen, ohne sich auf 2) einzulassen. Denn, um im Sinne von 1) erfolgreich zu sein, reicht es aus, 2) als Randbedingung zu tolerieren, ohne sich daran darüber hinaus zu binden. Den Sozialstaat nun dafür zu benutzen, um mittels Sanktionen 2) zu erreichen, wie Özdemir es nahelegt, halte ich für einen Holzweg. Wenn jemand sich gegen diese Ordnung engagiert und die entsprechenden Regeln wiederkehrend verletzt, wird man ihn nicht mit Transferleistungsentzug erreichen. Dann stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Aufenthaltsberechtigung verwirkt werden kann. Für Staatsbürger gilt das hingegen nicht, die muss man aushalten.

Sascha Liebermann

14. September 2024

"Warum die aktuelle Bürgergelddebatte nicht die richtigen Schwerpunkte setzt"...

 ...ein differenzierter Beitrag aus dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung vom März diesen Jahres.

Dass auch hier Sanktionen für "unverzichtbar" erklärt werden, nachdem dargelegt wurde, wie die Lage der Leistungsbezieher ist und in welchem Fall überhaupt Sanktionen ausgesprochen wurden, muss man unter normativer Voreingenommenheit verbuchen. Sie entspricht ganz dem Geist der Nachrangigkeit von Grundsicherungsleistungen und dem Ziel, Bezieher wieder in Erwerbstätigkeit zu bringen. Man könnte allerdings auch anders argumentieren, denn Erwerbstätigkeit ist ja kein Selbstzweck, es geht dabei um Wertschöpfung, dass etwas geleistet wird, was anders nicht geleistet werden kann, und dazu braucht es zuallererst engagierte und interessierte Mitarbeiter. Gewinnt man die etwa über Sanktionsdrohungen? Das ist doch nicht nur unwahrscheinlich, sondern geradezu abwegig.

Es stellt ein grundsätzliches Problem der Debatte zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dar, wie stark Leistung in dem hier genannten Sinne entwertet und durch Beschäftigungsaufnahme ersetzt wird, dass es nicht um Wertschöpfung, sondern um Erwerbsteilnahme geht, als würde uns das weiterhelfen. Dass die Bürger sich gegen diese Entwertung nicht wirklich wehren, dass es die Repräsentanten kaum tun und die Unternehmen es ähnlich sehen, hat etwas Zerstörerisches, wenn es um Leistung geht.

Sascha Liebermann

13. September 2024

"Bedingungsloses Grundeinkommen: Teuer und wirkungslos selbst für Bedürftige"

Alleine die Titelzeile des Beitrags von Dominik Enste für das Institut der deutschen Wirtschaft lässt aufhorchen, wenn man zum einen schon die Kommentare von Guy Standing und Scott Santens zum Stellenwert dieser Studie kennt, zum anderen sich mit dem Stellenwert von Feldexperimenten im allgemeinen befasst hat. Wie stark Enstes Darstellung von den Kommentaren der anderen beiden, die als Kenner der Materie gelten können, abweicht, ist frappierend. Bei der Lektüre und vor allem den Schlussfolgerungen gewinnt man den Eindruck, es werde nicht über dasselbe Projekt gesprochen. Während Enste von BGE spricht, ging es im Projekt um ein "guaranteed income"; während ein BGE keine Bedürftigungsprüfung kennt und an alle Personen gewährt wird, war das hier nicht der Fall, nicht einmal innerhalb eines Haushalts, wenn man dem Kommentar von Guy Standing folgt. 

Enste ist auch früher schon dadurch aufgefallen, dass er wenig differenziert und durch eine bestimmte Brille auf den Vorschlag eines BGEs blickt, so dass der Beitrag hier als dankbare Bestätigung für frühere Vorbehalte verstanden werden kann. 

Siehe unsere früheren Beiträge zu Kommentaren von Dominik Enste.

Sascha Liebermann

"Lost in Sozialversicherung" - Statt zielgenau, zielungenau

Erhebliche Hürden, Stigmatisierung, die auch ein Grund für "verdeckte Armut" sind - sie bezeugen die Zielungenauigkeit des heutigen Sozialstaats trotz all der Leistungen, die existieren.

Sascha Liebermann

"Es gibt kein Rech auf Faulheit"?

8. September 2024

"Der Regelsatz ist nicht besonders üppig"

6. September 2024

"Es braucht bessere Arbeitsanreize für Bürgergeldempfänger"...

 ...ein Kommentar von Jörg Münchenberg im Deutschlandfunk

So recht der Autor hat, dass die Bezeichnung Bürgergeld in die Irre führt und die SPD damit nur eine Aufhübschung vornehmen wollte, so sehr geht sein Vorschlag an der Sache vorbei:

"Und ja, es braucht weiterhin harte Sanktionen, während gleichzeitig die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Bürgergeldempfänger verbessert werden sollten, denn Arbeit muss sich wieder lohnen. Wer derzeit Bürgergeld bekommt und einen Job aufnimmt, hat stattdessen das Nachsehen."

Was heißt "hart" und hatten wir das nicht schon einmal? Man könnte meinen, der Bezug von Bürgergeld sei eine Annehmlichkeit - damit werden nur Klischees gepflegt, die trotz der vielen Hinweise aus Studien, aber auch von erfahrenen Praktikern, fortbestehen. 

Darüber hinaus muss man fragen, was sich der Autor den von Sanktionen erhofft? Soll es wirklich darum gehen, dass beinahe jeder Arbeitsplatz besser als keiner, Erwerbstätigkeit besser als Erwerbslosigkeit ist?  Das mag man für ein arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Ziel halten, doch ein Gemeinwesen lebt von Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, entsprechend sollte ein Sicherungssystem genau das unterstützen. Dann müsste es darauf wert legen, dass Fähigkeiten und Neigungen auf der einen und Aufgaben auf der anderen Seite zueinanderkommen. Das gelingt am besten durch Freiwilligkeit, wie sie als Stärke der Vorstellung von Arbeitsmärkten in der Regel gefeiert wird. Ein Sanktionssystem unterläuft genau das und damit entwertet es den Leistungsgedanken, der doch immer als so wichtig betrachtet wird und es auch tatsächlich ist. Außerdem verbrämt der Ausdruck "Anreiz" den Charakter von Sanktionen, denn sie sind ein Drohmittel und nicht nur eine Möglichkeit, die geboten wird.

Wer also Leistung nicht entwerten und aus Unternehmen keine Erziehungsanstalten machen will, die sich mit unmotivierten Mitarbeitern herumschlagen sollen, wer Wertschöpfung für wichtiger hält als Beschäftigung, der müsste für eine Abkehr von Sanktionen plädieren. Er müsste für ein Sicherungssystem plädieren, dass Freiräume schafft, die Leistungsbereitschaft fördern - indem Interessen und Neigungen gefördert werden.

Sascha Liebermann

Was Demokratie nicht ist

Deswegen nannten wir damals unsere Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung", um deutlich zu machen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.

Sascha Liebermann 

4. September 2024

"Die Agenda-Lüge"...

...ein Beitrag von André Kühnlenz auf der Website "Politische Ökonomie". Im Beitrag geht es um die Entwicklung der Löhne im Verhältnis zu Produktivität und Inflation und inwiefern "Lohnzurückhaltung" nicht Lösung, sondern ein Problem darstellt.

26. August 2024

"Did Sam Altman's Basic Income Experiment Succeed or Fail?"..

...ein Kommentar von Scott Santens zu jüngst veröffentlichten Ergebnissen einer Studie, die medial wieder zum Abgesang auf das Grundeinkommen genutzt wurden, statt sie einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen. 

Feldexperimente bzw. Pilotprojekte werden notorisch überschätzt, siehe hier und hier.

Sascha Liebermann

"Ein US-amerikanisches Grundeinkommensexperiment, das keines war"...

 ...ein Kommentar von Guy Standing zu jüngst veröffentlichen Ergebnissen eines Projekts, in der Übersetzung von Eric Manneschmidt. In der Übersetzung wird auf die englische Version verlinkt, aus der übersetzt wurde.

Guy Standing befasst sich seit Jahrzehnten mit Überlungen zum Grundeinkommen, war an wissenschaftlichen Projekten international beteiligt und kennt sich äußert gut in der Materie aus. Seine differenzierter Kommentar macht auch deutlich, wie sorgsam quantiative Daten und daraus gewonnene statistische Korrelationen interpretiert werden müssen, um keine Kurzschlüsse zu verursachen.

Unsere Beiträge zum Stellenwert von Feldexperimenten finden Sie hier.

Sascha Liebermann