8. Oktober 2024

1. Oktober 2024

"...muss den Sozialstaat neu aufstellen..."

..."Durch Einwanderung treten neue ideologische Auseinandersetzungen auf den Plan, andere bestanden schon oder werden verstärkt. Wer Ideologie in ihren tödlichen Zuspitzungen wirksam und an der Wurzel bekämpfen will – und ich nenne Rechtsextremismus, Islamismus und Antisemitismus ganz bewusst in einer Reihe –, muss den Sozialstaat neu aufstellen: weniger Transferleistungen. Mehr gezielte Leistungsanreize und starke öffentliche Institutionen.“ 

Das schreibt Wem Özdemir in seinem Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - und man hat den Eindruck, obwohl er damit über das Thema seines Beitrags weit hinausgeht, er greife die Debatte über das Bürgergeld auf, in der wiederholt wilde Behauptungen aufgestellt wurden. Warum stellt er diesen Zusammenhang her, der keineswegs naheliegt.

Jonas Wagner (FAZ) kommentiert das auf Twitter:

Auf diesen Kommentar antwortet Lukas Weber (Bündnis 90/ Die Grünen) mit dem Verweis darauf, es gelte, die soziale Infrastruktur zu stärken:

Doch, was hat das eine mit dem anderen zu tun, worauf Wagner zurecht hinweist? 

Den "Sozialstaat" müsste man, will man die öffentliche Infratstruktur stärken, nicht "neu aufstellen", sondern lediglich verändern. Wenn es nur darum geht, mehr Sprachförderung usw. anzubieten und durchzuführen, bedarf es lediglich der Entscheidung dafür, es zu tun - damit sprengt man nicht den Rahmen des bestehenden Sozialstaats. Warum dann diesen Zusammenhang herstellen, der nicht weiter ausgeführt wird? Berücksichtigt man noch, dass der Vorschlag Ideologien an der Wurzel bekämpfen will, dann ist die Verknüpfung geradezu naiv. Ist der Autor der Auffassung, dass sich Vertreter solcher Ideologien, wie er sie eingeführt hat, durch reduzierte Transferleistungen beeindrucken lassen? Das klingt nach dem Zuckerbrot-und-Peitsche-Modell, das aus der sozialpolitischen Debatte allzu geläufig ist. 

Sicher lässt sich manches an der Diskussion über Zuwanderung zu kritisieren, ihre Überhöhung ebenso wie ihre Verharmlosung, doch mit Transferleistungen hat das nichts zu tun. An anderen Stellen im Beitrag wird klarer, worum es Özdemir geht, doch das klärt nicht, weshalb er den Sozialstaat meint neu aufstellen zu müssen, um die von ihm als Problem identifizierten Ideologien zu bekämpfen. Özdemir schreibt im gleichen Absatz:

"Und wer als Migrant erlebt, dass Leistung anerkannt wird und zählt, Chancen ermöglicht werden und umgekehrt bewusste Integrationsverweigerung auch sanktioniert wird, wird verinnerlichen und akzeptieren, dass das Grundgesetz als Leitkultur die richtige und einzige Grundlage unseres Zusammenlebens ist."

Was haben Leistung und Integration miteinander zu tun? Welche Integration (siehe z. B. hier und hier)? 

Zweierlei wird in einen Topf geworfen: 1) Leistungsbereitschaft und die Möglichkeiten, sie zu entfalten. Dass für unser Verständnis von Leistungserbringung Leistungsbereitschaft die Voraussetzung ist, ist zwar trivial, wird aber in seiner Bedeutung häufig unterschätzt. Leistungsbereitschaft ist das Ergebnis eines langen, sozialisatorischen Bildungsprozesses und kann nicht auf anderem Wege herbeigeführt werden. Wer das will, muss sich also die Frage stellen, welche Bedingungen des Aufwachsens benötigen Kinder, damit eine solche Leistungsbereitschaft entstehen kann. Dazu ist es unerlässlich den kindlichen Bildungsprozess in seinen Eigenheiten zu beachten und ihn nicht durch die Brille der Erwachsenen zu betrachten (siehe z. B. hier und hier). Dann bedarf es, ist sie einmal ausgebildet, der Bedingungen, damit sie sich ihren Weg suchen kann im Leben, auch im Berufsleben. Aber: es handelt sich hier immer darum, die Person an der Leistung zu beurteilen, es geht nicht um die Person um ihrer selbst willen, wenn wir über den Beruf sprechen. Eine Integration von Einwanderern bezogen auf dieses Verständnis ist etwas ganz anderes als: 2) Loyalität als Bindung an ein Gemeinwesen und seine von ihm selbst gestaltete Ordnung. Wie in 1) gilt auch hier, dass sich eine solche Bindung für diejenigen, die in Deutschland geboren oder als Kleinkind eingewandert sind, durch den Prozess der Sozialisation herausbilden. Wer einwandert, ist diesbezüglich in einer ganz anderen Situation als derjenige, der hier geboren wird, sofern die Einwanderung nach der Adoleszenz erfolgt. Davon einmal abgesehen geht es im Unterschied zu 1) bei dieser Integration, wenn wir den Begriff beibehalten wollen, um die Integration der Person um ihrer selbst willen, weil sie dem Gemeinwesen angehört. Sie wird nicht an Leistung gemessen, sondern wird - als Staatsbürger - zum Träger der Ordnung. Wer also darauf zielt, muss zum einen Möglichkeiten für eine solche "Verwurzelung", für ein Sesshaftwerden und eine Bindung an das Gemeinwesen schaffen und Zuwanderern den Stellenwert, den das Gemeinwesen hat, vorleben. Grundsätzlich muss er darauf vertrauen, dass jemand der zuwandert, bereit ist, auf dieses Gemeinwesen einzulassen (Böckenförde-Diktum). Zum anderen muss er bereit sein, Verletzungen der Regeln zu sanktionieren, aber erst dann, wenn sie geschehen und nicht präventiv mit dem Verdacht, dass sie ohnehin verletzt werden. Er muss vor allem ein klares Verständnis davon haben, wie zugewandert werden kann und verschiedene Formen klar unterscheiden. Gerade bezüglich dieser Zusammenhänge liegt aber manches im Argen, denn dazu bedarf es einer selbstverständlichen, klaren und gelassenen Bindung an das eigene Gemeinwesen, zu der es auch gehört, wo nötig, Kritik zu üben, Vorschläge zur Verbesserung zu erwägen und sich selbst dafür einzusetzen - und zwar gemäß der Ordnung, wie sie besteht als republikanische Demokratie. Genau diesbezüglich - so meine Einschätzung - liegt aber manches im Argen, man schaue sich nur die Sozialpolitik an, dann erhält man einen Eindruck davon.

Was Özdemir heraushebt ist nun, dass eine Integration im Sinn von 1) zu einer Integration im Sinne von 2) führt, wenn denn nur 1) richtig gelebt wird. Man kann jedoch sehr wohl 1) folgen, ohne sich auf 2) einzulassen. Denn, um im Sinne von 1) erfolgreich zu sein, reicht es aus, 2) als Randbedingung zu tolerieren, ohne sich daran darüber hinaus zu binden. Den Sozialstaat nun dafür zu benutzen, um mittels Sanktionen 2) zu erreichen, wie Özdemir es nahelegt, halte ich für einen Holzweg. Wenn jemand sich gegen diese Ordnung engagiert und die entsprechenden Regeln wiederkehrend verletzt, wird man ihn nicht mit Transferleistungsentzug erreichen. Dann stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen eine Aufenthaltsberechtigung verwirkt werden kann. Für Staatsbürger gilt das hingegen nicht, die muss man aushalten.

Sascha Liebermann

14. September 2024

"Warum die aktuelle Bürgergelddebatte nicht die richtigen Schwerpunkte setzt"...

 ...ein differenzierter Beitrag aus dem Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung vom März diesen Jahres.

Dass auch hier Sanktionen für "unverzichtbar" erklärt werden, nachdem dargelegt wurde, wie die Lage der Leistungsbezieher ist und in welchem Fall überhaupt Sanktionen ausgesprochen wurden, muss man unter normativer Voreingenommenheit verbuchen. Sie entspricht ganz dem Geist der Nachrangigkeit von Grundsicherungsleistungen und dem Ziel, Bezieher wieder in Erwerbstätigkeit zu bringen. Man könnte allerdings auch anders argumentieren, denn Erwerbstätigkeit ist ja kein Selbstzweck, es geht dabei um Wertschöpfung, dass etwas geleistet wird, was anders nicht geleistet werden kann, und dazu braucht es zuallererst engagierte und interessierte Mitarbeiter. Gewinnt man die etwa über Sanktionsdrohungen? Das ist doch nicht nur unwahrscheinlich, sondern geradezu abwegig.

Es stellt ein grundsätzliches Problem der Debatte zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik dar, wie stark Leistung in dem hier genannten Sinne entwertet und durch Beschäftigungsaufnahme ersetzt wird, dass es nicht um Wertschöpfung, sondern um Erwerbsteilnahme geht, als würde uns das weiterhelfen. Dass die Bürger sich gegen diese Entwertung nicht wirklich wehren, dass es die Repräsentanten kaum tun und die Unternehmen es ähnlich sehen, hat etwas Zerstörerisches, wenn es um Leistung geht.

Sascha Liebermann

13. September 2024

"Bedingungsloses Grundeinkommen: Teuer und wirkungslos selbst für Bedürftige"

Alleine die Titelzeile des Beitrags von Dominik Enste für das Institut der deutschen Wirtschaft lässt aufhorchen, wenn man zum einen schon die Kommentare von Guy Standing und Scott Santens zum Stellenwert dieser Studie kennt, zum anderen sich mit dem Stellenwert von Feldexperimenten im allgemeinen befasst hat. Wie stark Enstes Darstellung von den Kommentaren der anderen beiden, die als Kenner der Materie gelten können, abweicht, ist frappierend. Bei der Lektüre und vor allem den Schlussfolgerungen gewinnt man den Eindruck, es werde nicht über dasselbe Projekt gesprochen. Während Enste von BGE spricht, ging es im Projekt um ein "guaranteed income"; während ein BGE keine Bedürftigungsprüfung kennt und an alle Personen gewährt wird, war das hier nicht der Fall, nicht einmal innerhalb eines Haushalts, wenn man dem Kommentar von Guy Standing folgt. 

Enste ist auch früher schon dadurch aufgefallen, dass er wenig differenziert und durch eine bestimmte Brille auf den Vorschlag eines BGEs blickt, so dass der Beitrag hier als dankbare Bestätigung für frühere Vorbehalte verstanden werden kann. 

Siehe unsere früheren Beiträge zu Kommentaren von Dominik Enste.

Sascha Liebermann

"Lost in Sozialversicherung" - Statt zielgenau, zielungenau

Erhebliche Hürden, Stigmatisierung, die auch ein Grund für "verdeckte Armut" sind - sie bezeugen die Zielungenauigkeit des heutigen Sozialstaats trotz all der Leistungen, die existieren.

Sascha Liebermann

"Es gibt kein Rech auf Faulheit"?

8. September 2024

"Der Regelsatz ist nicht besonders üppig"

6. September 2024

"Es braucht bessere Arbeitsanreize für Bürgergeldempfänger"...

 ...ein Kommentar von Jörg Münchenberg im Deutschlandfunk

So recht der Autor hat, dass die Bezeichnung Bürgergeld in die Irre führt und die SPD damit nur eine Aufhübschung vornehmen wollte, so sehr geht sein Vorschlag an der Sache vorbei:

"Und ja, es braucht weiterhin harte Sanktionen, während gleichzeitig die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Bürgergeldempfänger verbessert werden sollten, denn Arbeit muss sich wieder lohnen. Wer derzeit Bürgergeld bekommt und einen Job aufnimmt, hat stattdessen das Nachsehen."

Was heißt "hart" und hatten wir das nicht schon einmal? Man könnte meinen, der Bezug von Bürgergeld sei eine Annehmlichkeit - damit werden nur Klischees gepflegt, die trotz der vielen Hinweise aus Studien, aber auch von erfahrenen Praktikern, fortbestehen. 

Darüber hinaus muss man fragen, was sich der Autor den von Sanktionen erhofft? Soll es wirklich darum gehen, dass beinahe jeder Arbeitsplatz besser als keiner, Erwerbstätigkeit besser als Erwerbslosigkeit ist?  Das mag man für ein arbeitsmarkt- und sozialpolitisches Ziel halten, doch ein Gemeinwesen lebt von Leistungsbereitschaft und -fähigkeit, entsprechend sollte ein Sicherungssystem genau das unterstützen. Dann müsste es darauf wert legen, dass Fähigkeiten und Neigungen auf der einen und Aufgaben auf der anderen Seite zueinanderkommen. Das gelingt am besten durch Freiwilligkeit, wie sie als Stärke der Vorstellung von Arbeitsmärkten in der Regel gefeiert wird. Ein Sanktionssystem unterläuft genau das und damit entwertet es den Leistungsgedanken, der doch immer als so wichtig betrachtet wird und es auch tatsächlich ist. Außerdem verbrämt der Ausdruck "Anreiz" den Charakter von Sanktionen, denn sie sind ein Drohmittel und nicht nur eine Möglichkeit, die geboten wird.

Wer also Leistung nicht entwerten und aus Unternehmen keine Erziehungsanstalten machen will, die sich mit unmotivierten Mitarbeitern herumschlagen sollen, wer Wertschöpfung für wichtiger hält als Beschäftigung, der müsste für eine Abkehr von Sanktionen plädieren. Er müsste für ein Sicherungssystem plädieren, dass Freiräume schafft, die Leistungsbereitschaft fördern - indem Interessen und Neigungen gefördert werden.

Sascha Liebermann

Was Demokratie nicht ist

Deswegen nannten wir damals unsere Initiative "Freiheit statt Vollbeschäftigung", um deutlich zu machen, dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat.

Sascha Liebermann 

4. September 2024

"Die Agenda-Lüge"...

...ein Beitrag von André Kühnlenz auf der Website "Politische Ökonomie". Im Beitrag geht es um die Entwicklung der Löhne im Verhältnis zu Produktivität und Inflation und inwiefern "Lohnzurückhaltung" nicht Lösung, sondern ein Problem darstellt.

26. August 2024

"Did Sam Altman's Basic Income Experiment Succeed or Fail?"..

...ein Kommentar von Scott Santens zu jüngst veröffentlichten Ergebnissen einer Studie, die medial wieder zum Abgesang auf das Grundeinkommen genutzt wurden, statt sie einer differenzierten Betrachtung zu unterziehen. 

Feldexperimente bzw. Pilotprojekte werden notorisch überschätzt, siehe hier und hier.

Sascha Liebermann

"Ein US-amerikanisches Grundeinkommensexperiment, das keines war"...

 ...ein Kommentar von Guy Standing zu jüngst veröffentlichen Ergebnissen eines Projekts, in der Übersetzung von Eric Manneschmidt. In der Übersetzung wird auf die englische Version verlinkt, aus der übersetzt wurde.

Guy Standing befasst sich seit Jahrzehnten mit Überlungen zum Grundeinkommen, war an wissenschaftlichen Projekten international beteiligt und kennt sich äußert gut in der Materie aus. Seine differenzierter Kommentar macht auch deutlich, wie sorgsam quantiative Daten und daraus gewonnene statistische Korrelationen interpretiert werden müssen, um keine Kurzschlüsse zu verursachen.

Unsere Beiträge zum Stellenwert von Feldexperimenten finden Sie hier.

Sascha Liebermann

20. August 2024

19. August 2024

"MEHR Arbeit lohnt sich nicht"...

... - damit wäre die Diskussion zu einer Frage verschoben, an auch andere eine Unstimmigkeit im Sozialsystem erkannt haben wie Johannes Steffen.

Aber: Der sogenannte Lohnabstand ist nicht sozial-mechanisch zu verstehen, wie Studien schon gezeigt haben (siehe hier). Es verringert sich die inhaltliche Bedeutung des Berufs für den Einzelne nicht "automatisch" mit geringerem Lohnabstand, denn berufliches Engagement, auch Berufsethos, haben eine inhaltliche Dimension, die nichts mit dem Lohn zu tun hat. Damit soll nicht gesagt werden, dass der Lohn keine Rolle spiele, immerhin muss der Lebensunterhalt damit bestritten werden, auch bringt eine Beteiligung am Unternehmenserfolg zum Ausdruck und darüber hinaus handelt man konform mit dem Erwerbsgebot, wenn Einkommen über Erwerbstätigkeit erzielt wird. Doch Beruf und Lohn sind zwei voneinander unabhängige Dimensionen.

Durch die normative Dimension, die dem Lohn vermittelt über das Erwerbsgebot zukommt, also durch die  Erwartung und Verpflichtung, über Erwerbstätigkeit Einkommen zu erzielen, werden beide Dimensionen kurzgeschlossen. Das zeigt sich auch in der verkürzten Deutung, Einkommen und "Anreiz" zu Erwerbstätigkeit hingen zusammen, in der nicht selten sozial-mechanisch argumentiert wird (siehe z. B. hier).

Sascha Liebermann

16. August 2024

"Die Grundrente, was ist das eigentlich"...

...ein Beitrag Johannes Geyers, der den Unterschied zwischen der vor einigen Jahren eingeführten Grundrente in Deutschland und echten Mindestrenten erläutert.

Es sei erwähnt, dass auch ein Bedingungsloses Grundeinkommen als Grund- bzw. Mindestrente zu verstehen wäre, allerdings von der Wiege bis zur Bahre.

Sascha Liebermann