10. November 2025

"Ein integriertes Steuer- und Sozialtransfersystem zur Absicherung des Existenzminimums"...

 ...ein Vorschlag von Stefan Bach, Michael Opielka und Wolfgang Strengmann-Kuhn, zur PDF-Datei geht es hier.

Isö-Podcast Folge 2: Existenzminimum

4. November 2025

"Wir wir fleißig wurden" - doch wie gelangt der Autor zu seiner Deutung und was übersieht er?

Werner Plumpe, Prof. em., Historiker, hat in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung einen Beitrag mit dem Titel "Wie wir fleißig wurden" veröffentlicht, der sich mit dem Wandel der "Einstellung zur Arbeit" befasst und das in einem historischen Überblick von der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts bis in die Gegenwart verfolgt. Darin geht es um das Verständnis von Leistung, das vorherrschte und noch die Nachkriegszeit prägte, welche Bedeutung die Erfahrung von Knappheit und Mangel für den materiellen Wohlstandszuwachs hatte. Am Ende geht es darum, ob der Sozialstaat der Gegenwart diesbezüglich wohlstandsförderlich sei oder nicht. Im ersten Teil des Beitrags schreibt Plumpe:

"So uneinheitlich das Bild im Einzelnen ist, der Stellenwert von Arbeit scheint dennoch zurückgegangen zu sein. Um zu begreifen, welcher Wandel sich gegenwärtig vollzieht, welche Bedeutung Meinungsumfragen haben, nach denen die Bevölkerung in der Pflichterfüllung nicht mehr ihre eigentliche Herausforderung sieht, hilft es, nach den historischen Wurzeln des lange Zeit gültigen Pflichtdenkens zu fragen."

Dass der Stellenwert von Erwerbsarbeit, nur von der ist in Plumpes Beitrag die Rede, sich verändert hat, vor allem bezüglich seines Inhaltes, ist unstrittig, seine normative Bedeutung ist hingegen stärker als früher, man muss sich nur die Erwerbsquote anschauen und die Betreuungsquote in Kitas. Erwerbstätigkeit ist nicht mehr, wie Plumpe für frühere Zeiten behauptet, der Knappheit und dem Mangel geschuldet. Meinungsumfragen sind für eine solche Einschätzung eine schlechte Quelle, weil sie oberflächliche Selbsteinschätzungen wiedergeben. Plumpe neigt teils zu einer etwas mechanischen Deutung des Wandels im Arbeitsverhalten, obwohl er zugleich auf andere Aspekte diesbezüglich hinweist, so z. B. die anfangs religiös aufgeladene Bedeutung von Arbeit, deren normative Geltung sich heute von diesen Wurzeln schon lange gelöst hat:

"Doch Forschungen zur Sozialgeschichte des Arbeitsverhaltens haben ganz eindeutig gezeigt, dass es vor allem die mit der modernen Erwerbsarbeit verbundene Zunahme von Konsumchancen etwa bei Textilien oder bei Genussmitteln wie Tee und Zucker war, die das Arbeitsverhalten vieler Menschen zunehmend änderte. "

Womöglich stellt sich das in den Studien, auf die er hier verweist, differenzierter dar, hier hingegen übersieht er, dass "Konsum" nicht unabhängig von der gesellschaftlichen Bewertung von Konsum als Ausweis erfolgreicher Erwerbsteilnahme zu betrachten ist. Sich etwas leisten können ist damit Ausdruck einer Bindung an das normativ Wertgeschätzte.

Folgende Deutung überrascht:

"Zusammen mit dem im Zuge der Globalisierung beschleunigten Strukturwandel führte diese Konstellation seit den späten Siebzigerjahren indes sukzessive zu einer starken Belastung der Sozialsysteme, da die aus dem Erwerbsleben verdrängten Menschen immer öfter dauerhaft im Sozialstaat „geparkt“ wurden, ohne dass es hinreichend Anreize, ja Zwänge gab, in die Arbeitswelt zurückzukehren."

Wie kommt Plumpe zu dieser Deutung? Schon in der in der 1960er Jahren eingeführten Sozialhilfe waren Sanktionen vorgesehen, wenn Arbeitsaufnahme verweigert wurde (siehe hier das Gesetz, hier unseren früheren Beitrag dazu). Wenn Plumpe, wenn auch in Anführungszeichen, davon spricht, "Menschen" seien "dauerhaft" "geparkt" worden, widerspricht das Studien aus der dynamischen Armutsforschung, die zeigen konnten, dass das gerade nicht der Fall war. Im Sozialhilfebezug war eine hohe Dynamik, viele Bezieher verließen den Leistungsbezug im ersten Jahr, weitere in den Folgejahren. Es kann nicht die Rede davon sein, dass dort "immer öfter jemand 'geparkt' wurde" (hier Literaturverweise dazu). Leistungsbezug über fünf Jahre hinaus betrifft eine deutliche Minderheit in entsprechenden Problemlagen. Dementsprechend ist auch die nachstehende Passage nicht haltbar:

"Was von der Regierung Kohl noch toleriert wurde, war für die Regierung Schröder/Fischer der Anlass, die Hartz-Reformen auf den Weg zu bringen, die alles in allem wirksam waren, gerade weil sie den sozialen Druck erhöhten. Dass dieAmpelregierung mit dem Bürgergeld die Hartz-Reformen faktisch zurücknahm und damit die Möglichkeit deutlich ausweitete, auch ohne reguläres Erwerbseinkommen zu existieren, ist denn auch der Kern der gegenwärtigen Debatte um Fleiß, Leistung und Hilfe. Das allein hat diese Debatte aber nicht verursacht. Zu einer weiteren Verschiebung, die zunächst schleichend einsetzte, kam es seit der Jahrtausendwende, als der materielle Wohlstand als Faktor der Umweltzerstörung in die Kritik geriet. Seither gilt ein fleißiges Arbeitsverhalten, das allein auf die Vermehrung des materiellen Wohlstandes setzt, als schädlich, und zwar sowohl für die natürliche Umwelt wie für das seelische Gleichgewicht des Menschen. Die von hier ausgehenden Strömungen einer Begrenzung der Arbeit, eines Verzichtes auf materielle Zuwächse, zuletzt eines umfassenden ökonomischen Schrumpfens haben vor allen Dingen bei jüngeren Menschen gehobener Bildungsschichten Attraktivität. Überspitzt gesagt: Der erhobene Zeigefinger auf andere und zugleich das Verzichtenkönnen auf eigene Arbeit machen die alte aristotelische Symbiose aus Hedonismus und Moralismus wieder aktuell."

Was meint er damit, die Regierung Kohl habe das noch toleriert? Es war stetes Wahlkampfthema seit den achtziger Jahren, die stigmatisierenden Reden über Erwerbslose waren überall zu vernehmen und Sanktionen gab es ebenfalls. Die unter der Regierung Schröder eingeführte Gesetzgebung führte zwar zu einer Verschärfung der Sanktionen, die Behauptung vom angeblich lange andauernden Leistungsbezug hingegen war eine Mär (siehe oben). Der Vermittlungsvorrang, der dazu führte, dass beinahe jedes Arbeitsangebot angenommen werden musste, führte zum größten Niedriglohnsektor in Europa, der erklärtermaßen das Ziel der Regierung war. Plumpe folgt hier der Maxime, Not mache erfinderisch, schärfere Sanktionen seien leistungsfördernd. Er übersieht hierbei jedoch die Entwertung von Leistung, die mit dieser Sozialpolitik einherging, weil sie antiinnovativ war, im Zweifelsfall gar den Verzicht auf Automatisierung befürwortete. Wenn Leistung nicht mehr daran gemessen wird, was am Ende dabei herauskommt, sondern zum Kriterium wird, wieviele Personen den Leistungsbezug verlassen haben, hat das mit Leistungsethos nichts mehr zu tun, sehr viel aber damit, Beschäftigung zu schaffen.

Abschließend schreibt Plumpe:

"Doch hat der Sozialstaat mit seinen Transferleistungen auch in anderen Teilen der Gesellschaft den Wert der Erwerbsarbeit infrage gestellt. Diese Entwicklungen werden sich mit Appellen, deren Gültigkeit in historischer Perspektive immer an den Zwängen der Knappheitsbewältigung hing, kaum korrigieren lassen. Und eine Wiederkehr existenzieller Knappheiten ist kaum erstrebenswert. Wie aber ansonsten eine 'Wiederverfleißigung' der Menschen erfolgen könnte, ist ein offenes Problem."

Worauf rekurriert Plumpe hier? Soll die von der CDU angezettelte Bürgergeldkampagne als Beleg gelten, also die nicht auffindbaren vielen "Totalverweigerer", von denen immerzu die Rede war? Offenbar sieht er nicht, dass es gerade diese Sozialpolitik war und ist, die Leistung entwertet und abgesehen davon, andere Leistungsformen, von denen ein Gemeinwesen ebenso lebt, degradiert. Mehr denn je erscheint die Familienpolitik heute als Anhängsel der Arbeitsmarktpolitik und entwertet damit eine weitere wichtige Leistung für das Zusammenleben. Das "offene Problem", das er hierin zu erkennen scheint, wäre in einer anderen Richtung zu suchen, dass die Entwertung von Leistung in der jungen Generation womöglich Spuren hinterlassen hat (siehe dazu hier).

Sascha Liebermann

1. November 2025

Annahmen ziehen Schlussfolgerungen nach sich, doch sind die Annahmen treffend?

Im Handelsblatt hat Bert Rürup, Wirtschaftswissenschaftler, einst "Wirtschaftsweiser" und vielfältig Politikberater, einen Beitrag mit dem Titel "Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück" (wir hatten denselben Titel für einen Kommentar genutzt, siehe hier) veröffentlicht. Wie dem Titel zu entnehmen ist, greift er die Diskussionen um das Bürgergeld auf und ordnet sie ein. Endlich habe auch die SPD ein Einsehen, dass die Einführung des Bürgergeldes ein Fehler war, so liest sich sein Beitrag, als seien damals grundsätzliche Änderungen eingeführt worden. Eher könnte man davon sprechen, dass die Bezugsregelungen etwas weniger strikt ausfielen, aber angesichts einer nach wie vor geltenden Bedürftigkeitsprüfung in Verbindung mit einem sanktionsbewehrten Leistungsbezug konnte nicht ernsthaft von einer wesentlichen Erleichterung für die Bezieher gesprochen werden. Deswegen war schon damals Kritik an der Bezeichnung "Bürgergeld" laut geworden, da sie etwas suggeriere, das nicht der Fall war, und zwar dass eine Leistung für alle Bürger als Bürger war, ohne sonstige Bezugsbedingungen. Insofern ist die nun vorgesehene Veränderung eben nur eine Rückkehr zu dem, was es zuvor schon gab.

Rürup fehlt allerdings eine entscheidende Veränderung, die Frage nach den Hinzuverdienstregelungen, denn die seien demotivierend, der Transferentzug ist bei Hinzuverdiensten erheblich, es bleibt von ihnen letztlich nicht viel übrig. Diese Kritik gibt es schon lange, sie steht im Zusammenhang mit der um das Lohnabstandsgebot sowie dem ihm zugrundeliegenden Theorem von der Armutsfalle, eines Theorems, das hohes Ansehen genießt, aber empirisch nicht belegt ist (siehe hier). Dass über die Frage diskutiert werden kann, wann es sich "lohne", erwerbstätig zu sein und wann nicht, soll hier nicht bestritten werden, die Engführung ist das Problem, als entscheide sich dies am Lohnabstand alleine und vor allem, als habe Erwerbstätigkeit nicht noch andere ebenso gewichtige Dimensionen, die für den Einzelnen relevant sind und als gebe es nicht andere Aufgaben, die bedeutender sein können oder es gar sind. Dass dies keine Beachtung findet bei denjenigen, die den Lohnabstand zu gering bzw. die Transferentzugsrate zu hoch finden, liegt an deren Vorstellung davon, warum Menschen tun, was sie tun. Bei Rürup wird das an folgender zustimmend zitierter Aussage deutlich:

"'Wenn man die Wahl hat, entweder brutto für netto mehr zu verdienen oder aber für mehr Brutto kaum oder kein zusätzliches Netto zu erhalten, verwundert diese Reaktion auf die Anreize des Sozialsystems nicht', stellt Ifo-Experte Andreas Peichl fest."

Folgerichtig, von diesen Annahmen ausgehend, muss das "Arbeitsangebot gezielter" stimuliert werden.

"Sicherlich sind einfachere Lösungen denkbar. Allerdings wäre es durch eine Kombination unterschiedlicher Entzugsraten möglich, das Arbeitsangebot gezielter zu stimulieren und zugleich fiskalische Einsparungen unter Berücksichtigung verteilungspolitischer Ziele zu erzielen. Denn eine „One-size-fits-all-Lösung gibt es nicht“, schreibt das Ifo-Institut zutreffend."

Weil eindimensional gedacht wird, kann das Problem nur durch gezieltere Stimulierung gelöst werden, als fehle es an der grundsätzlichen Bereitschaft. Rürup erkennt nicht an, dass es einen Zielkonflikt geben kann, wenn die Aufnahme von Erwerbstätigkeit bzw. die Erhöhung des Umfangs mit anderen Verpflichtungen schlicht kollidiert und bei ganz gleichem Lohn der Preis zu hoch wäre, der Preis, der in diesem Fall womöglich hieße, andere Dinge nicht tun zu können, die der Einzelne für wichtig oder gar wichtiger erachtet. Bestimmmte Annahmen ziehen eben bestimmte Schlussfolgerungen nach sich, aber wie steht es um die Annahmen?

Sascha Liebermann

28. Oktober 2025

„Ich bin nicht euer Hund“...

 ...so ist ein Beitrag von Nicolas Kurzawa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Bezahlschranke) übertitelt, der über die Erfahrungen von Arbeitsvermittlern im Jobcenter berichtet, Grundlage war ein Besuch im Jobcenter.

Von drei Gesprächen wird berichtet, alle drei sind unterschiedlich - dennoch geben sie Einblick in die alltägliche Arbeit. Solche Berichte kann man nur jedem empfehlen, der sich selbst nicht vorstellen kann, warum jemand Bürgergeld bezieht und er sei denjenigen empfohlen, die mit Haudrauf-Methoden die Debatte um das Bürgergeld angezettelt haben, die behaupten, es gebe ein ungeheures Potential an möglichen Erwerbstätigen, die im Bürgergeldbezug sich ausruhen, ganz zu schweigen von der großen Zahl an "Totalverweigerern", die dort abhängen und sich ein schönes Leben machen.

Sascha Liebermann

21. Oktober 2025

Vortrag von Ute Fischer in München, am 17 November

16. Oktober 2025

Vollständige Streichung von Sanktionen möglich? Ein Kommentar von Stefan Sell...

...aus dem Jahr 2023 ist zur Klärung hilfreich (siehe den Kommentar hier). Hilfreich ist er, weil zuletzt geradezu empört auf die Vorschläge der Bundesregierung zur "Reform" des Bürgergeldes reagiert wurde, dabei zeigt ein anderer Kommentar von Stefan Sell aus dem Januar 2024, wer eine solche Verschärfung samt erhoffter Einsparungen schon vorgesehen hatte: die damalige Bundesregierung durch einen Vorschlag des Bundesarbeitsminister Hubertus Heil.

Sell schrieb im Dezember damals:

"Dass das BVerfG unter bestimmten Umständen auch den vollständigen Leistungsentzug als nicht grundsätzlich verfassungswidrig eingestuft haben, ist begründungsbedürftig. Hierzu die Argumentation des Gerichts, die gleichsam von oben nach unten gelesen werden muss: Zwei Begriffe sind hier von zentraler Bedeutung: Der Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG, hier zitiert nach dem Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16 (Hervorhebungen nicht im Original):

'Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.'"

Entscheidend ist nach Sell dieser Absatz:

"'Anders liegt dies folglich, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II) ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Ihre Situation ist dann im Ausgangspunkt derjenigen vergleichbar, in der keine Bedürftigkeit vorliegt, weil Einkommen oder Vermögen aktuell verfügbar und zumutbar einsetzbar sind. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und im Sinne des § 10 SGB II zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II willentlich verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, die einer Arbeitsaufnahme bei objektiver Betrachtung entgegenstehen könnten, ist daher ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen.' (BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16, Randziffer 209)."

Man kann sich also lange über aktuelle Vorschläge aufregen, und das zurecht, weil sie Potemkinsche Dörfer bauen, Wolkenkuckucksheime, ohne wirklich eine in die Zukunft weisende Lösung zu bieten. Dann sollte aber nicht übersehen werden, dass diese Diskussion von der alten Bundesregierung gefördert wurde, was sie nicht hätte tun müssen. Auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts hinzuweisen, ohne eine wirkliche Alternative anzubieten, unterläuft die Verantwortung dafür, eine politische Lösung zu suchen. 

Was steht einer solchen Lösung im Weg? Nun, der politische Wille dazu ist gegenwärtig nicht zu erkennen, damit meine ich nicht nur bei Bundestagsmitgliedern, sondern in der öffentlichen Diskussion. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen, das so viele Anknüpfungspunkte im bestehenden Sozialstaat aufgreifen und transformieren kann, steht nicht zur Diskussion, auch wenn die Abgrenzung dagegen ständig bemüht wird. Woran hängt das? Die Antwort hierauf scheint mir sehr einfach, wie ich gestern in einer öffentlichen Diskussion dazu wieder feststellen konnte:

1. Der normative Vorrang von Erwerbstätigkeit wird nicht angetastet, sie thront über allem. Dort, wo es zumindest Sympathien für eine Relativierung von Erwerbstätigkeit gibt, wird darauf verwiesen, dass wir nun mal in einem kapitalistischen System lebten, in dem die Wertschöpfung an Lohnarbeit hänge. Dieser Fatalismus kommt einer Selbstentmachtung gleich und würde jedes politische Handeln überflüssig machen. Davon abgesehen hängt der Wertschöpfungsprozess an Voraussetzungen, die er selbst nicht schafft: einem politischen Gemeinwesen und den leistungsbereiten Bürgern, die sich engagieren.

2. Die Bedeutung eines garantierten Einkommens in Geldform für die Selbstbestimmungsmöglichkeiten des Einzelnen wird unterschätzt. Dass ein solches Einkommen nicht nur einfach Geld ist, sondern zugleich  Macht bedeutet, sich gegen und für etwas zu entscheiden, wird nicht gesehen oder heruntergespielt. Es sei ein "Kulturwandel" nötig, er sei wichtiger, hieß es gestern - ein BGE wäre aber gerade ein Kulturwandel insofern, als die Gemeinschaft sich in Gestalt ihrer Bürger ein garantiertes Einkommen gewährt, das direkt an die Person geht und sie dann machen lässt. Damit erkennt sie ihre Stellung im Gemeinwesen an und vertraut darauf, dass die Bürger zum Wohle des Gemeinwesens grundsätzlich zu handeln bereit sind.

3. Mit dem zweiten Punkt verknüpft ist das Misstrauen gegenüber dem Individuum als Bürger, wie es sich gerade auch in der Bürgergelddebatte wieder zeigt - die Sorge um negative "Anreize". Alleine schon das Denken in Anreizen ist eine Bankrotterklärung, weil unterkomplex und den Menschen als ein Wesen verstehend, das ohne ihm äußere Stimulationen nichts zu leisten im Stande ist.

Sascha Liebermann

"Über 500 verschiedene Sozialleistungen in Deutschland"...

 ...hat das ifo-Institut ausfindig gemacht und eine Inventarliste erstellt. Hier ein Auszug aus der Pressemitteilung:

"Als Sozialleistungen gelten Dienstleistungen, Geldleistungen, Sachleistungen oder andere Hilfen, die zur Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit erbracht werden im Sinne der Paragraphen 1 und 11 des Sozialgesetzbuchs I (SGB I). Die Autoren garantieren keine Vollständigkeit der Liste. Experten und Interessierte sind dazu eingeladen, potenzielle Ergänzungen oder Korrekturen mitzuteilen, um die Qualität und Vollständigkeit der Informationen zu verbessern. Die Datenbank ist aufrufbar unter: https://github.com/ifo-institute/sozialleistungen"


Für die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen ist diese Auflistung interessant, weil damit deutlich gemacht werden kann, welche Möglichkeiten ein BGE stattdessen bietet. Von Beginn der Debatte an waren Fragen nach einer Vereinfachung des Leistungszugangs und der -bereitstellung zentral, damit Anspruchsberechtigte möglichst leicht ihre Ansprüche geltend machen könnten angesichts der hohen Rate geschätzter Nicht-Inanspruchnahme ("verdeckte Armut"). Die Frage nach dem Zugang ist eine der Gerechtigkeit, hinzu kommt die Frage nach der Zielgenauigkeit, auch wirklich diejenigen zu erreichen, die sie am meisten benötigen. Der Bereitstellungsmodus entscheidet darüber, ob die Leistungsbereitstellung stigmatisierend ist oder nicht und im Falle eines BGE würde der Modus auf ein anderes Fundament gestellt, weil nun nicht mehr die Rückführung in den Arbeitsmarkt das vorrangige Ziel der Leistungen wäre, sondern die Stärkung der Selbstbestimmung der Bürger als Bürger.

Wenn es um die "Reform" des Bürgergeldes geht, dann muss sie sich daran messen lassen, welche Antworten sie auf die oben genannten Fragen gibt. Die Messlatte wird durch ein BGE hoch gelegt, weil sich mit ihm viele Leistungen bündeln ließen, ohne andere, die darüber hinaus nötig blieben, in Frage zu stellen.

Sascha Liebermann

14. Oktober 2025

"Solidarität ist keine Einbahnstraße"...

...so ist das Interview mit Karl-Josef Laufmann, dem Minister für "Arbeit, Gesundheit und Soziales" in Nordrhein Westfalen überschrieben, das derGeneralanzeiger Bonn in der Wochenendausgabe vom 11./12. Oktober veröffentlichte. Darin geht es auch um das Bürgergeld und seine "Reform". Drei Passagen seien hier kommentiert. An einer Stelle heißt es:

"Das Bürgergeld soll reformiert werden. Was muss sich ändern?

[Laumann] Wichtig ist, dass der Fokus wieder stärker auf der Arbeitsvermittlung liegt und wir die Eigenverantwortung der Arbeitssuchenden stärken. Sowohl in den Jobcentern als auch bei den Agenturen für Arbeit muss es wieder heißen: vermitteln, vermitteln, vermitteln."

Der "Vermittlungsvorrang" soll vermutlich wieder gelten, was den Druck auf Arbeitslosengeldbezieher erhöht, Stellenangebote anzunehmen, Laumann verklärt das, wenn er davon spricht, die "Eigenverantwortung" "zu stärken". Was erhofft er sich davon, welche Vorteile soll es bringen? Wenn es in Erwerbsverhältnisse darum gehen soll, dass Aufgaben angemessen erledigt und Neuerungen entwickelt werden, verlangt das ein Mindestmaß an Interesse und Bereitschaft, sich darauf auch einzulassen, sich mit der Aufgabe verbinden zu können. Jeder kann wissen, was dabei herauskommt, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, da reicht schon aus, sich selbst zu beobachten. Wenn nun der Druck erhöht wird, mag das der Statistik helfen und Steuergeld einsparen bei erfolgter Annahme des Angebotes, hilft es aber Unternehmen dabei, dass ihre Wertschöpfung steigt, dass Bereitstellungsprozesse für Güter und Dienstleistungen so ausgeführt werden, wie sie ausgeführt werden sollten? Das kann mehr als bezweifelt werden und Erfahrungen der Vergangenheit haben schon gezeigt, dass dies eher dazu führt, kurzzeitig anhaltende "Vermittlungserfolge" zu verbuchen, die eben nicht von Dauer sind. Von daher ist das also kein Gewinn, einzig lassen sich Vorurteile bedienen und man kann behaupten, man hätte etwas unternommen, als komme es auf das Ergebnis nicht an.

In einer anderen Passage sagt Laumann:

"Sie haben zuletzt aber mehrfach beklagt, dass Leisungsbezieher Beratungstermine vielfach ignoriert haben.

[Laumann] Nur, um das von vornherein klarzustellen: Das ist die klare Minderheit der Leistungsbezieher. Aber: Ich persönlich bin ganz klar der Meinung, dass sich Staat und Gesellschaft nicht auf dem Kopf herumtanzen lassen dürfen. Wenn jemand, der von Grundsicherung lebt, von der für ihn zuständigen Behörde einen Beratungstermin erhalten hat, dann hat er zu kommen. Punkt. Solidarität ist keine Einbahnstraße."

Er sagt es selbst und könnte es noch deutlicher sagen, wenn man die Statistik zu erfolgten Sanktionen (Leistungsminderungen) wegen Meldeversäumnissen konsultiert. Von denjenigen wenigen, die sanktioniert werden, wird der größte Teil wegen Meldeversäumnissen sanktioniert, das war auch vor Einführung des Bürgergeldes schon so.

Insofern ist es auch polemisch überzogen, wenn Laumann davon spricht, der "Staat und die Gesellschaft" dürfe sich nicht auf dem Kopf herumtanzen lassen. Es wäre eher zu fragen, welche Gründe hinter den Meldeversäumnissen stehen, auch dazu gab es immer wieder Berichte und Studien. Dann wäre die Folgefrage, was mit einer Verschärfung erreicht werde. Statt Skandalisierung wäre nüchterne Analyse gefragt, statt disziplinierender Pädagogik eine angemessene Lösung zu suchen. Sie ist genau nicht zu erkennen. Das spricht nun alles keineswegs dafür, Beratung nicht zu verbessern usw., eine Beratung allerdings, die als Androhung daherkommt, ist keine Einladung zur Beratung, sondern eine Vorladung. Das war sie unter "Hartz IV" schon, das ist sie auch im Bürgergeld. Die Null-Toleranz-Haltung, die Laumann hier zum Besten gibt, fragt nicht nach Gründen, sie scheinen nicht zu interessieren - eine Lösung darf man dann auch nicht erwarten.

Zuletzt geht es im Gespräch noch um diejenigen, die über längere Zeit Bürgergeld beziehen:

"Was ist mit den Langzeit-Bürgergeldempfängern, für die sich kein Job auf dem ersten Arbeitsmarkt findet?

[Laumann] Wir müssen wieder mehr dazu kommen, den Menschen, die in der Grundsicherung und noch nicht vermittlungsfähig sind, eine gemeinnützige Arbeit anzubieten. Die Idee mit den Ein-Euro-Jobs war grundsätzlich richtig. Wenn wir sagen: Wir zahlen Wohnung, Heizung und Geld für den Haushalt, dann kann man erwarten, dass man gegen eine Aufwandsentschädigung einen gemeinnützigen Job annimmt. In den Tafeln erlebe ich immer wieder, dass da Menschen mit an Bord sind, die das möglicherweise anfangs als störend, später aber als absolut sinnstiftende Aufgabe wahrnehmen. Menschen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt Schwierigkeiten hätten. Man darf aber nicht unterschätzen, welchen Halt ein solcher Kollegenkreis bietet, die tägliche Struktur. Daraus kann dann auch mehr werden. Wir müssen endlich wegkommen von der Sichtweise, dass das alles Strafmaßnahmen sind. Es ist eine Chance."

Laumann kennt sich aus, wie er hier deutlich macht, verklärt aber auch die Zusammenhänge. Eine "gemeinnützige Arbeit" anzubieten ist eben kein bloßes Angebot, sondern eine Androhung mit Folgen. Es geht doch nicht, dass niemand nichts tut, diese Haltung ist hier zu erkennen. Wenn jemand von der Gemeinschaft etwas erhält, kann man eine Gegenleistung erwarten. Nur, was weiß man über die Beschwernisse dessen, der einem solchen Angebot nicht nachkommt? Was hilft es ihm, wenn man auf diese Art der Gegenleistung besteht, wenn er sie nicht angemessen ausführen kann? Laumanns Beispiel mit den Tafeln unterschlägt, dass für dieses Engagement gilt, was immer gilt: die besten Voraussetzungen dafür ist die Bereitschaft, sich zu engagieren. Wer sie nicht hat, ist keine Hilfe. Ob jemand etwas als "sinnstiftende Aufgabe" wahrnimmt, lässt sich nicht von außen verordnen, das gibt Laumann zu erkennen, dennoch will er Leistungsbezieher dazu verdonnern. "Halt" und "Tagesstruktur" sind jedoch, sofern es dazu nicht schon eine bestimmte Haltung gibt, der Person äußerlich, eine fragile Hilfe nur. Zieht man sie wieder weg, geht der Halt verloren. Ziel  müsste dann vielmehr auf lange Sicht sein, dass jemand wieder sich selbst Halt geben kann. Wenn Laumann am Ende davon spricht, wieder die "Chance" zu sehen und nicht von "Strafmaßnahmen" zu sprechen, folgt er der semantischen Verschönerung, denn es sind doch Strafmaßnahmen, genau so führt er sie ein. Oder soll Hilfe, die angeboten wird, nicht mehr ausgeschlagen werden können? Das ist bei Strafmaßnahmen eben der Fall, dann doch lieber Klartext reden.

Sascha Liebermann

13. Oktober 2025

"Volksentscheid gescheitert: Kein Grundeinkommen-Test in Hamburg"

"Das Ex­pe­ri­ment "Ham­burg tes­tet Grund­ein­kom­men" kommt nicht zu­stan­de. Beim Volks­ent­scheid am Sonn­tag stimm­ten 62,6% der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger gegen die Vor­la­ge der In­itia­ti­ve, 37,4% vo­tier­ten dafür, wie das Lan­des­wahl­amt als vor­läu­fi­ges Er­geb­nis mit­teil­te.
Die Abstimmungsbeteiligung lag den Angaben zufolge bei 43,7%."


Die Initiative hinter dem Volksentscheid "Hamburg testet Grundeinkommen" berichtet auf ihrer Website ebenfalls über das Ergebnis vom gestrigen Sonntag, siehe hier.

Das Ergebnis kann nun aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet werden. Das Experiment wurde eindeutig abgelehnt, zugleich aber hat sich ein deutlicher Teil der abgegebenen Stimmen für das Experiment ausgesprochen. Insofern ist es ähnlich wie in der Schweiz, als im Juni 2016 die Eidgenössische Volksinitiative "Für ein bedingungsloses Grundeinkommen" abgelehnt wurde, aber beinahe ein Viertel der abgegebenen Stimmen dafür votierte, in manchen Kantonen waren es sogar über 30% (siehe unseren früheren Beitrag dazu hier und hier).

Es scheint gegenwärtig der Wind gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen stark zu sein, insofern könnte man es für einen Vorschlag zur Unzeit halten. Zugleich jedoch ist die Starrköpfigkeit, mit der nun das Bürgergeld mit seinen zaghaften Verbesserungen wieder zu Hartz IV zurückgedreht wird doch ein Zeichen von Hilflosigkeit, als habe es die Erfahrungen damit nicht gegeben, als habe es keine Studien gegeben, die darauf hinweisen, dass Sanktionen kein hilfreiches Instrument sind. Aber die Bereitschaft einmal grundsätzlich zu denken, andere Wege zu gehen, mit der Rede von "Eigenverantwortung", dem Vertrauen in die Bürger, der Bereitschaft zu Innovation ernst zu machen, fehlt ebenso. Dann dümpeln wir weiter im Brackwasser des Überkommenen.

Sascha Liebermann

10. Oktober 2025

Entwertung von Erwerbstätigkeit durch Beschäftigung statt Wertschöpfung

9. Oktober 2025

Sprachkosmetische Rückkehr zu Hartz als Fortschritt

Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück

Nachdem die SPD damals in großen Tönen angekündigt hatte, "Hartz IV" abzuschaffen bzw. hinter sich lassen zu wollen und ein "Bürgergeld" einzuführen, das in der Ampel-Regierung als Gesetz verabschiedet wurde, folgt dieser sprachkosmetischen Verschleierung nun die amtierende Bundesregierung und macht es der Ampel nach, indem sie mit demselbem Pomp vermeintlich alles umkrempeln will: aus dem "Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende" wird nun die vollkommen neue und grundlegend andere "Grundsicherung für Arbeitsuchende". Der damaligen "Abschaffung" von Hartz IV, die lediglich eine milde Lockerung der Sanktionen beinhaltete, folgt nun die Rückkehr zu Hartz IV mit großen Ankündigungen. Wieder ist die SPD an den hochfliegenden Zielen beteiligt und hat nichts daraus gelernt, die Bürger für dumm zu verkaufen. 

Die Bezeichnung "Bürgergeld" hat sie verbrannt, weil sie etwas versprach, was das Bürgergeld nicht war, auch wenn Bundeskanzler Merz fortwährend das Gegenteil behauptet. Von Anfang an gab es an dieser Irreführung Kritik, auch von Seiten der CDU, allerdings fiel die auf den Begriff herein und behauptete nun, damit sei ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt worden - eine für die dann losgetretene Kampagne der CDU gegen das Bürgergeld zurechtgeschusterte abseitige Behauptung. 

Trotz wiederholter Widerlegung abenteuerlicher Berechnungen, die behaupteten, Erwerbsarbeit lohne sich nicht mehr für Bürgergeldbezieher (siehe hier und hier), führte die CDU munter die Kampagne weiter. Als nächstes waren die "Totalverweigerer" an der Reihe, die vom Bürgergeld angeblich angelockt wurden, weil sie es als "bedingungsloses Grundeinkommen" verstanden. Auch diesen Beleg blieb die CDU schuldig. Wiederholt behauptete sie, es handele sich um eine enorme Zahl an Personen, die zu unrecht Bürgergeld beziehen - ohne das belegen zu können. Sachkundige Experten halfen nach und widerlegten die Behauptungen flugs.

Was glaubt die amtierende Bundesregierung wohl, wer auf diese Umetikettierung hereinfällt, für wie dumm werden die Bürger gehalten? Sie arbeitet damit genau denjenigen zu, die immer behaupten, dass die Bürger für dumm verkauft werden.

Sascha Liebermann

Eine Mär