13. Oktober 2025

"Volksentscheid gescheitert: Kein Grundeinkommen-Test in Hamburg"

"Das Ex­pe­ri­ment "Ham­burg tes­tet Grund­ein­kom­men" kommt nicht zu­stan­de. Beim Volks­ent­scheid am Sonn­tag stimm­ten 62,6% der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger gegen die Vor­la­ge der In­itia­ti­ve, 37,4% vo­tier­ten dafür, wie das Lan­des­wahl­amt als vor­läu­fi­ges Er­geb­nis mit­teil­te.
Die Abstimmungsbeteiligung lag den Angaben zufolge bei 43,7%."


Die Initiative hinter dem Volksentscheid "Hamburg testet Grundeinkommen" berichtet auf ihrer Website ebenfalls über das Ergebnis vom gestrigen Sonntag, siehe hier.

Das Ergebnis kann nun aus unterschiedlichen Perspektiven gedeutet werden. Das Experiment wurde eindeutig abgelehnt, zugleich aber hat sich ein deutlicher Teil der abgegebenen Stimmen für das Experiment ausgesprochen. Insofern ist es ähnlich wie in der Schweiz, als im Juni 2016 die Eidgenössische Volksinitiative "Für ein bedingungsloses Grundeinkommen" abgelehnt wurde, aber beinahe ein Viertel der abgegebenen Stimmen dafür votierte, in manchen Kantonen waren es sogar über 30% (siehe unseren früheren Beitrag dazu hier und hier).

Es scheint gegenwärtig der Wind gegen ein Bedingungsloses Grundeinkommen stark zu sein, insofern könnten man es für einen Vorschlag zur Unzeit halten. Zugleich jedoch ist die Starrköpfigkeit, mit der nun das Bürgergeld mit seinen zaghaften Verbesserungen wieder zu Hartz IV zurückgedreht wird doch ein Zeichen von Hilflosigkeit, als habe es die Erfahrungen damit nicht gegeben, als habe es keine Studien ergeben, die darauf hinweisen, dass Sanktionen kein hilfreiches Instrument sind. Aber die Bereitschaft einmal grundsätzlich zu denken, andere Wege zu gehen, mit der Rede von "Eigenverantwortung", dem Vertrauen in die Bürger, der Bereitschaft zu Innovation ernst zu machen, fehlt ebenso. Dann dümpeln wir weiter im Brackwasser des Überkommenen.

Sascha Liebermann

10. Oktober 2025

Entwertung von Erwerbstätigkeit durch Beschäftigung statt Wertschöpfung

9. Oktober 2025

Sprachkosmetische Rückkehr zu Hartz als Fortschritt

Von Hartz IV zum Bürgergeld und zurück

Nachdem die SPD damals in großen Tönen angekündigt hatte, "Hartz IV" abzuschaffen bzw. hinter sich lassen zu wollen und ein "Bürgergeld" einzuführen, das in der Ampel-Regierung als Gesetz verabschiedet wurde, folgt dieser sprachkosmetischen Verschleierung nun die amtierende Bundesregierung und macht es der Ampel nach, indem sie mit demselbem Pomp vermeintlich alles umkrempeln will: aus dem "Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende" wird nun die vollkommen neue und grundlegend andere "Grundsicherung für Arbeitsuchende". Der damaligen "Abschaffung" von Hartz IV, die lediglich eine milde Lockerung der Sanktionen beinhaltete, folgt nun die Rückkehr zu Hartz IV mit großen Ankündigungen. Wieder ist die SPD an den hochfliegenden Zielen beteiligt und hat nichts daraus gelernt, die Bürger für dumm zu verkaufen. 

Die Bezeichnung "Bürgergeld" hat sie verbrannt, weil sie etwas versprach, was das Bürgergeld nicht war, auch wenn Bundeskanzler Merz fortwährend das Gegenteil behauptet. Von Anfang an gab es an dieser Irreführung Kritik, auch von Seiten der CDU, allerdings fiel die auf den Begriff herein und behauptete nun, damit sei ein bedingungsloses Grundeinkommen eingeführt worden - eine für die dann losgetretene Kampagne der CDU gegen das Bürgergeld zurechtgeschusterte abseitige Behauptung. 

Trotz wiederholter Widerlegung abenteuerlicher Berechnungen, die behaupteten, Erwerbsarbeit lohne sich nicht mehr für Bürgergeldbezieher (siehe hier und hier), führte die CDU munter die Kampagne weiter. Als nächstes waren die "Totalverweigerer" an der Reihe, die vom Bürgergeld angeblich angelockt wurden, weil sie es als "bedingungsloses Grundeinkommen" verstanden. Auch diesen Beleg blieb die CDU schuldig. Wiederholt behauptete sie, es handele sich um eine enorme Zahl an Personen, die zu unrecht Bürgergeld beziehen - ohne das belegen zu können. Sachkundige Experten halfen nach und widerlegten die Behauptungen flugs.

Was glaubt die amtierende Bundesregierung wohl, wer auf diese Umetikettierung hereinfällt, für wie dumm werden die Bürger gehalten? Sie arbeitet damit genau denjenigen zu, die immer behaupten, dass die Bürger für dumm verkauft werden.

Sascha Liebermann

Eine Mär

Rhetorische Finte als Novum

Unverhältnismäßig

4. Oktober 2025

"Hat die Arbeitsgesellschaft eine Zukunft?"...

 ...ein Interview mit dem kürzlich verstorbenen Soziologen Claus Offe, das im Jahr 2023 für Jacobin geführt wurde, in dem er auf die "doppelte Machtbeziehung in Arbeitsverhältnissen" hinweist und welche Folgen es hat, wenn Erwerbstätigkeit als normativ herausragende Quelle von Einkommen verstanden wird.  Am Ende des Interviews sagt Offe:

"Je reicher die Volkswirtschaften sind, desto geringer ist ihr weiteres Wachstum. Das heißt, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Arbeitsverträge und Arbeitslöhne ist ein Modell, das nicht mehr ausreicht. Deshalb muss es andere Modelle geben, nämlich Grundeinkommen, Transfer, nationale Dividenden, also die Verteilung gesamter volkswirtschaftlicher Leistungen und Erträge an Bürgerinnen und Bürger – und nicht nur an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer."

Hier könnte man ihm entgegenhalten, dass ein BGE sein Recht nicht daraus bezieht, ein nicht mehr funktionierendes Verteilungssystem zu reparieren, sondern daraus, die Verteilungsfrage grundsätzlich anders zu beantworten. In anderen Beiträgen hat er das durchaus thematisiert, z. B. hier "Familienleistung jenseits der Marktarbeit - das bedingungslose Grundeinkommen" und hier "Armut, Arbeitsmarkt, Autonomie". Wie wenige hat er herausgehoben, dass es bedeutet, ein BGE von den "citizen rights" herzuleiten, es gehe dabei um ein Bürgerrecht und keine fiskalische Technik der Steuervereinfachung.

Sascha Liebermann

Methodische Einwände zu Pilotprojekten...

....auf die Rückfrage von Joy Ponader habe ich in diesem Thread eine Kurzantwort gegeben. Eine längere finden Sie hier

Abgesehen davon besteht die Gefahr des Szientismus, also der Vorstellung, nur weil es wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, sei das schon eine Antwort darauf, ob ein BGE praktisch gewollt werden müsste.

Sascha Liebermann

3. Oktober 2025

"Die wahre Armutsfalle"...

 ...eine Rezension des Buches von Ronald Gebauer, Hanna Petschauer und Georg Vobruba "Wer sitzt in der Armutsfalle" (2001) von Agnes Streissler aus dem Jahr 2003, die einen Überblick über die Ergebnisse gibt. Auf diese Studie von Gebauer und Kollegen haben wir immer wieder verwiesen (siehe hier und hier mit weiteren Quellenverweisen), weil sie ein Theorem auf seinen Realitätsgehalt prüft, das noch immer Debatten um Sozialhilfe bzw. Bürgergeld prägt. Selbst in der BGE-Diskussion wird auf das dem Lohnabstandsgebot unterliegende Theorem der Armutsfalle Bezug genommen, und zwar dann, wenn darauf hingewiesen wird, wie das BGE den Lohnabstand sicherstellte. Damit wird aber unterstellt, dass dieser Lohnabstand der entscheidende Grund dafür sei, ob es sich lohne, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Grund für diese verkürzende Betrachtung der Motivierung von Handeln ist die Behauptung, Anreize seien entscheidend, vor allem einer: der Nutzen des Lohns bzw. der Zusatzgewinn durch höheres Einkommen. Genau diese Behauptung bürstet die Studie gegen den Strich.

Sascha Liebermann

2. Oktober 2025

Bedingungslosigkeit vs. direkter Anrechnung - das macht den Unterschied

30. September 2025

"Wegen KI werden bis zu 70 Prozent aller beruflichen Aufgaben wegfallen"...

...so ist ein Interview mit Peter Kirchschläger, Professor an der Universität Luzern, in Der Bund aus Bern übertitelt, in dem es um Folgen der Nutzung Künstlicher Intelligenz in den kommenden Jahren geht und wie darauf geantwortet werden könnte (ein weiteres Interview hat er News.at gegeben). In früheren Beiträgen hatten wir deutlich gemacht, dass die Einführung eines BGE nicht direkt mit etwaigen Folgen der Digitalisierung zusammenhängt und entsprechend auch eine Begründung, die sich daran bindet, nur eine schwache Begründung für ein BGE ist. Warum? Weil ein BGE dann nur als Reparaturmaßnahme für Defekte des Arbeitsmarktes benutzt würde und entsprechend nicht eingeführt werden müsste, wenn diese sich nicht einstellten. Kirchschläger allerdings schlägt gar kein BGE vor, nur ein Grundeinkommen, so nennt er es. Wie begründet er das?

"Was sollte man stattdessen machen?
[Kirchschläger] Ehrlicher wäre es, anzuerkennen, dass wir das System demokratisch so anzupassen haben, damit in Zukunft alle von der Wertschöpfung durch DS profitieren können.

Wie könnte eine solche Anpassung aussehen?

[Kirschschläger] Fällt die Vollbeschäftigung weg, dann verlieren viele Menschen nicht nur ihr Einkommen. In meinem Buch führe ich 40 Funktionen auf, die eine Arbeitsstelle bietet, darunter Sinn- und Identitätsstiftung oder eine Tagesstruktur. Dem müssen wir Rechnung tragen, zum Beispiel mit meinem Society-, Entrepreneurship-, Research-Time-Modell, kurz Sert."

Offenbar geht er von erheblichen Folgen der KI-Nutzung für den Arbeitsmarkt aus, was zu Arbeitsplatzverlusten führe. Das sei aber nicht das einzige Problem, denn "viele Menschen [verlieren] nicht nur ihr Einkommen". Gewiss, Erwerbstätigkeit kann auch sinnerfüllend und für das Selbstverständnis bedeutsam sein, das würde ich nicht bestreiten. Wenn beides aber nur daran hängen sollte, wäre das eher problematisch. Nach geradezu schwarzer Pädagogik klingt es, wenn er der Auffassung ist, die Tagesstruktur (siehe auch die Äußerung Ralf Dahrendorfs dazu hier) hänge gar davon ab, erwerbstätig zu sein, als seien Menschen nicht grundsätzlich in der Lage, sich diese Struktur selbst zu geben. Wer dazu nicht in der Lage ist, hätte Beratungsbedarf, davon jedoch allgemein auszugehen, kommt einer Entmündigung gleich. Was eröffnet nun das von ihm hier eingeführte Modell Sert?

"Was sieht dieses Modell vor?

[Kirchschläger] Einerseits würden alle Menschen, die wegen DS keinen Job mehr haben, ein Grundeinkommen erhalten. Dieses wäre so hoch, dass es nicht nur zum Überleben reicht, sondern auch ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Dafür müssten die Menschen Gesellschaftszeit leisten und einer gesellschaftlich wichtigen Aufgabe nachgehen. Diese könnten sie frei wählen, zum Beispiel geflüchteten Menschen oder Bergbauern helfen. Das Vorbild dafür ist der Schweizer Zivildienst. Gleichzeitig setzt Sert Anreize für Innovation, Forschung und Unternehmertum. Denn wer sich in diesen Bereichen engagiert, würde von der Gesellschaftszeit befreit. Die Jobs, die man nicht durch DS ersetzen kann, müsste man über hohe Löhne attraktiv machen."

Sein Grundeinkommen soll offenbar nur für diejenigen da sein, die ihren "Job" verlieren, dann wäre es ein Grundeinkommen für erwerbslos gewordene oder vielleicht doch für alle, die erwerbslos sind? Das ist hier nicht deutlich, läge aber nahe, es sei denn, er würde den Anspruch daran binden, dass sie einmal mindestens erwerbstätig waren. Das Grundeinkommen wäre dann eines, das sich aus der Erwerbsbeteiligung ableiten würden - und was erhielten die anderen? Wenn eine Bedingung für den Bezug des Grundeinkommens ist, "Gesellschaftszeit" zu leisten, müsste das Grundeinkommen wiederum für alle zugänglich sein. Neu ist diese Idee nicht, denn Anthony Atkinson schlug schon vor beinahe 30 Jahren ein "participation income" vor, dass eben genau an gesellschaftliches Engagement gebunden ist. Dass auch Kirchschlägers Vorschlag eine Angemessenheitsprüfung verlangt, liegt auf der Hand, denn ob ein solches Engagement vorliegt oder nicht, muss zuerst ermittelt oder zuvor definiert worden sein. Es bedarf auch einer Überprüfung, ob dieses Engagement noch erbracht wird, also erfordert es eine Sozialverwaltung mit Aufsichtsrechten. Auffällig ist, wie selbstverständlich Haushaltstätigkeiten nicht unter ein solches Engagement fallen, sie bleiben in Kirchschlägers Modell etwas Zweitrangiges, zumindest im Interview. 

Auch die andere Seite, die angereizt werden soll - Innovation, Forschung und Unternehmertum - müssten erst ermittelt werden. Wo beginnt denn Forschung, was zählt als Innovation und was als Unternehmertum? Woran misst man das? Dass Kirchschläger nun gerade solche Beispiele wählt, ist erstaunlich, leben diese Bereiche doch ganz besonders von der von keinem "Anreiz" abhängigen starken Eigenmotivation der Personen. Geht es ihm nur um bessere Entfaltungsmöglichkeiten oder um Förderung solcher Tätigkeiten? Dann hätte er von Entfaltung und Förderung sprechen können, "Anreize" hingegen beziehen ihre Bedeutung von einem vereinfachten Reiz-Reaktions-Modell des Handelns, genau so werden sie in den Mikrosimulationsmodellen zum BGE auch eingesetzt. 

Sascha Liebermann

25. September 2025

Disziplinierung oder Wertschöpfung, worum geht es?

Siehe auch frühere Beiträge zu dieser Frage hier und hier.

Bedingungslosigkeit und Bedarfsprüfung

Siehe auch "Über Bedarfe und Bedürftigkeit"