Posts mit dem Label Anreize werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Anreize werden angezeigt. Alle Posts anzeigen

12. Mai 2025

"Grundeinkommen für alle?" - ein Gespräch zwischen Marcel Fratzscher und Andreas Peichl...

...mit teils unerwarteten und vielen erwartbaren Einschätzungen - hier geht es zum Gespräch bei Zeit Online (Bezahlschranke)

Ausgewählte Passagen seien hier wieder kommentiert. Zuerst einmal ist festzustellen, dass Marcel Fratzscher herausstellt, dass er selbst gegenüber dem BGE kritisch war - genau genommen hat er es mit einer ausgesprochen paternalistischen und in manchem der Haltung Peichls entsprechenden Ausführungen abgelehnt, das war 2017, also noch nicht so alt. Ähnlich in diesem Streitgespräch aus dem Jahr 2018.

Andreas Peichl hat sich wiederholt ablehnend zum BGE geäußert wegen der Auswirkungen, die er befürchte, diese Einwände wiederholt er mehr oder weniger im Zeit-Gespräch. 

Wie begründet Fratzscher seine veränderte Haltung: "Der Hauptgrund dafür ist das positive Menschenbild, das dem Grundeinkommen zugrunde liegt. Es betrachtet den Menschen als soziales Wesen, das intrinsisch motiviert ist, einen Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft zu leisten". Diese Begründung ist eher eine weltanschaulich praktische, ihr unterliegt ein Werturteil. Doch Fratzscher spricht hier, so werden beide zumindest angesprochen, als Wissenschaftler und Präsident des DIW. Dafür ist es irrelevant, ob man etwas sympathisch, unsympathisch oder sonstwie findet. Stattdessen müsst er zumindest Belege oder argumentative Herleitungen präsentieren, die deutlich machen, dass diesem "Menschenbild" eine Realität zugrundeliegt, die wir sozialwissenschaftlich untersuchen können - und nicht eine weltanschauliche Einordnung. Es müsste also darum gehen, aufzuzeigen, dass ein BGE Voraussetzungen enthält, die zum einen schon in der politischen Ordnung Deutschlands eine harte Wirklichkeit darstellen, zum anderen die Entscheidungsfindung des Einzelnen schon heute damit konfrontiert ist, genau die Handlungsfähigkeit in die Tat umzusetzen, die ein BGE verlangen würde.

Irritierend ist dann folgende Formulierung Fratzschers:

"Es [das BGE, SL] betont die Notwendigkeit, unsere Sozialsysteme umzugestalten, weg von einem reaktiven und sanktionierenden und hin zu einem aktivierenden Sozialstaat, der Freiheiten und Chancen schafft, damit möglichst alle Menschen ein selbstbestimmtes Leben führen können."

Fratzscher macht hier einen Gegensatz zwischen einem sanktionierenden und einem aktivierenden Sozialstaat auf, ganz ähnlich wie einst Robert Habeck Boni im Leistungsbezug den Sanktionen vorziehen wollte. Doch eine Aktivierung benötigen Bürger nicht, allenfalls müssen Hindernisse der Selbstbestimmung aus dem Weg geräumt werden - das ist etwas ganz anderes. Außerdem hatte die Vokabel von der Aktivierung ihre Hochzeit mit Einführung von Hartz IV. Chancen schafft der Sozialstaat, indem er zuerst einmal auf den Einzelnen vertraut und dann Angebote macht, die wahrgenommen werden können.

Wie äußert sich Andreas Peichl dazu:

"Peichl: Das [dass Menschen ihr Arbeitsangebot nicht reduzieren, SL] wäre natürlich eine positive Entwicklung, ich will aber noch einmal zum Ausgangspunkt zurück. Es gibt Menschen, die intrinsisch motiviert sind, wie du es gesagt hast, Marcel. Sie arbeiten gern, zum Beispiel weil sie ihre Tätigkeit als sinnstiftend empfinden oder das soziale Umfeld schätzen. Das widerspricht dem im ersten Semester gelehrten volkswirtschaftlichen Grundmodell, das nur Arbeitsleid kennt und keine Arbeitsfreude. Dass das anders sein kann, sehen wir in den Daten. Es gibt aber auch Menschen, für die die Entlohnung der wichtigste Grund für die Aufnahme einer Arbeit ist. Deshalb muss man staatliche Leistungen so austarieren, dass sie die intrinsische Motivation erhalten, ohne die extrinsische zu zerstören. Auch mit einem Grundeinkommen muss es sich lohnen, eine Arbeit aufzunehmen."

Peichl stellt die intrinsische der extrinsischen Motivation gegenüber und legt damit nahe, dass für die einen ein BGE richtig und angemessen wäre, weil sie intrinsisch motitivert seien, für die anderen aber nicht. Wenn aber ein BGE als Basis dient und ein Lohn hinzukommen kann, dann ist dem, was er "extrinsische" Orientierung nennt, Genüge getan. Was als Einwand gedacht ist, ist keiner. Davon abgesehen wäre es ein Missverständnis zu meinen, "extrinsische Motivierung" sei eine eigene Quelle von Aktivität, denn auch die Orientierung am Lohn ist eine intrinsische, denn den Lohn als vorrangiges Ziel oder Motiv zu betrachten, ist eine Haltung, die der Betreffende zum Lohn einnimmt, es ist seine Haltung. Das von Peichl erwähnte Theorem vom Arbeitsleid ist eines der empiriefreien Lehnstuhltheoreme, das in vielen Simulationen zu etwaigen Auswirkungen eines BGE die entscheidende Annahme bildet mit entsprechenden Ergebnissen. Was wäre, wenn andere Annahmen die Simulationen leiten würden? 

Fratzscher antwortet Peichls Motivierungsthese:

"Fratzscher: Die Frage ist mir zu despektierlich [zuvor wurde gefragt, wer den Müll wegräume]. Auch die Tätigkeit bei der Müllabfuhr kann sinnstiftend sein. In Deutschland gehen viele Millionen Menschen zur Arbeit und machen einen harten Job, der ihnen viel abverlangt – obwohl sie vielleicht nur ein paar Euro mehr bekommen als im Bürgergeld. Es gibt auch im Niedriglohnsektor eine intrinsische Motivation. Es kommt aber natürlich darauf an, dass der Lohnabstand groß genug ist, dass ich also, wenn ich arbeite, mehr Geld habe, als wenn ich nur das Grundeinkommen beziehe. Das bedeutet, dass nach der Einführung eines solchen Einkommens die Löhne steigen müssten. Dann würden einfache Dienstleistungen wahr- scheinlich teurer werden, aber das ist aus meiner Sicht gut. Der Abstand zwischen hohen Löhnen und niedrigen Löhnen ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen, wenn diese Lohnspreizung zurückgeht, wäre das im Sinne des sozialen Zusammenhalts eine positive Entwicklung."

Fratzscher antwortet hier treffend auf einen Klassiker der Einwände gegen ein BGE (siehe unsere Kommentare zu diesem Einwand hier). Wer diese Frage als ernsthaften Einwand betrachtet, müsste zeigen können, dass eine solche Bereitschaft zu Engagement in diesen Berufen nicht gibt - wo ist dieser Beleg? Wie das empirielose Lehnstuhltheorem vom Arbeitsleid, so beruht auch diese Einschätzung - Peichl nennt keine Studie oder Quelle - auf sehr voraussetzungsvollen Annahmen oder eben auf Vorurteilen. In den vielen Jahren, die ich schon Vorträge zum BGE gehalten und Diskussionen bestritten habe, konnte nie ernsthaft belegt werden, dass es am Interesse an einer solchen Tätigkeit fehlt. Eher ist es so, dass, wenn die Bezahlung es nicht erlaubt, die eigenen Lebenshaltungskosten zu decken oder die Arbeitsbedingungen zu schlecht wurden, dann deswegen der Beruf gewechselt wurde - nicht aber des Inhaltes wegen. Fratzscher allerdings unterläuft hier ein Denkfehler, denn im Unterschied zu heute gibt es zwischen BGE ohne und BGE mit Lohn immer einen relevanten Abstand, da der Lohn nicht angerechnet wird. Wenn also ein BGE eingeführt würde und die derselbe Lohn wie zuvor würde gezahlt, könnte das immer noch attraktiv sein. In dieser Überlegung Fratzschers scheint noch das Armutsfallentheorem fortzuwirken, das wie selbstverständlich genutzt, aber ebensowenig belegt ist (siehe hier). 

Wie sehr Peichl noch am Arbeitsleid- und Anreiztheorem hängt, zeigt sich hier:

"Peichl: Mit den Regeln, die wir jetzt haben, würden sie dafür in vielen Fällen faktisch bestraft werden, weil dann möglicherweise Transferleistungen wie zum Beispiel das Wohngeld wegfallen und Steuern und Sozialabgaben gezahlt werden müssen. Das führt dazu, dass vom zusätzlich erzielten Bruttoeinkommen netto wenig übrig bleibt – wenn überhaupt etwas. Man müsste also das Sozialsystem umbauen, um die Arbeitsanreize zu stärken, und gleichzeitig sicherstellen, dass der Staat genug Geld einnimmt, um das Grundeinkommen zu finanzieren."

Und hier wiederholt sich das:

"Peichl: Das Problem mit solchen Berechnungen ist, dass mögliche Anpassungsreaktionen nicht berücksichtigt werden. Wir müssen zum Beispiel davon ausgehen, dass die Leute weniger arbeiten, wenn Arbeit höher besteuert wird. Dann geht die Wirtschaftsleistung zurück, und die Steuereinnahmen sinken. Ich kann da in den Modellen ganz verheerende Wirkungen berechnen, je nachdem, welche Annahmen ich treffe – vor allem, wenn zu der 50-Prozent-Steuer noch Sozialabgaben dazukommen. Ich kann natürlich auch zu weniger dramatischen Ergebnissen kommen. Es ist schwierig bis unmöglich, die Folgen einer derart weitreichenden Änderung mit den Methoden, die uns zur Verfügung stehen, abzuschätzen."

Welche Anpassungsreaktionen, auf Basis welcher Annahmen erfolgen sie? Wenn ein BGE eingeführt wird und die höhere Besteuerung seiner Finanzierung dient, weshalb sollte das in der Breite es weniger attraktiv machen, erwerbstätig zu sein. Auch das ist eine Behauptung. Peichl sagt ja selbst - "je nachdem, welche Annahme ich treffe" -, eben, "je nachdem". Wie aber gelange ich denn zu diesen Annahmen? Nur weil etwas aufgrund der Verbreitung dieser Vorstellung von Arbeitsanreizen plausibel erscheint, muss es noch lange nicht plausibel sein. Dass er als Wissenschaftler das einfach so dahin stellt, ist erstaunlich. 

Aufschlussreich an dem Gespräch ist auch, dass Peichl lediglich einräumt, welch negative Auswirkungen Sanktionen haben können, wenn sie nur zu kurz anhaltenden Beschäftigungsverhältnissen führen. Dass er aber überhaupt in der Erhöhung der Beschäftigungsverhältnisse ein relevantes Ziel sieht und nicht darin, durch eine Veränderung der Existenzsicherungsbedingungen durch ein BGE die Chancen für ein gutes Passungsverhältnis zwischen Arbeitsuchendem und Unternehmen zu verbessern oder sogar darüber hinaus die offensive Nutzung von Automatisierungsmöglichkeiten zu befeuern, überrascht.

"ZEIT: Letzte Frage: Ab welchem Einkommen würden Sie aufhören zu arbeiten?

Peichl: Ich glaube, auch mit sehr viel mehr Geld würde ich mir ein Büro einrichten und weiter an den inhaltlichen Themen arbeiten. Es gibt für mich keine Summe, die groß genug wäre, um diesen Job nicht zu machen.

Fratzscher: So ist das auch bei mir. Ich sehe die Arbeit, die ich machen darf, als Privileg an. Ich gebe aber zu, dass ich mich sehr schwertun würde, mit 1.200 Euro im Monat auszukommen."

Die Frage ist ein Klassiker und wurde schon im ersten langen Grundeinkommensfilm gestellt, die Antworten waren damals schon bezeichnend und sind es auch hier. Was für Peichl gilt, scheint für andere ja nicht gelten zu können; was Fratzscher sagt, bestätigt, was BGE-Befürworter schon lange sagen, auch wenn es nur ein Aspekt unter anderen ist.

Sascha Liebermann

30. November 2024

"Berufstätige haben mehr Geld als Bürgergeldempfänger"...

 ...titelt die tagesschau und verweist pauschalieren Behauptungen zum Bürgergeld (siehe auch hier) in das Reich der Mythen. Das ist zwar nicht neu, aber angesichts der wiederholten, offenbar bewusst aufgestellt Behauptungen, ist es wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen. Selbst in einer Studie der Anreizanhänger aus dem ifo-Institut räumen ein, dass es sich immer "lohne" erwerbstätig zu sein, auch wenn "lohnen" hier stets gleichgesetzt wird mit Lohn und nicht damit, was Erwerbstätigkeit jenseits der Lohnfrage noch alles an Erfahrungen beinhaltet, die für wichtig erachtet werden.

Sascha Liebermann

14. November 2023

Nein, das kann doch...

...gar nicht sein, dass das eine Rolle spielen soll, obwohl man es ständig in ausführlichen Gesprächen antrifft, das darf nicht sein.

Sascha Liebermann

30. August 2023

Erwerbsbeteiligung Alleinerziehender nicht rückläufig und Reaktionen auf die "Anreiz"-Keule...

..., gut, dass hier gegen anscheinend unhaltbare Behauptungen entsprechende Daten genutzt werden. Drastischer fällt die Stellungnahme aus, die sich gegen die Verunglimpfung Alleinerziehender wendet. Dabei 
geht es um diese Äußerung:

"Wir wollen einerseits die materielle Situation Alleinerziehender verbessern, aber andererseits nicht zusätzliche Anreize geben, sich nicht um Arbeit zu bemühen. Es ist ja eine beklagenswerte Tatsache, dass die Erwerbsbeteiligung von Alleinerziehenden im vergangenen Jahrzehnt trotz des Ausbaus der Kinderbetreuungsstruktur zurückgegangen ist. Also weniger Erwerbsbeteiligung bei Alleinerziehenden während des vergangenen Jahrzehnts. Da dürfen wir kein Signal setzen, dass das verfestigt."

Der Finanzminister bleibt sich damit treu, wenn man das so sagen kann. Zu "Anreizen" siehe hier.

Sascha Liebermann

4. Juli 2023

"Anreize", Erwerbstätigkeit, "Kinderkriegen"...

...ziemlich kurz gesprungen dieser Begründungszusammenhang. Wer erreicht denn schon 150 000 Euro zu versteuerndes Einkommen im Jahr und sind das nicht diejenigen, die auch erhebliche Rücklagen haben könnten, um sich mehr Zeit für Familie zu nehmen? 

Bei Vollerwerbstätigkeit beider Elternteile bleibt ohnehin wenig Zeit für Familie, "Vereinbarkeit von Familie und Beruf" ist eine schönfärberische Formel, die die Folgen verdecken soll, die sie mit sich bringt. Familie wird dadurch in die Randzeiten des Tages verlagert und der Erwerbstätigkeit nachgeordnet, denn es bedarf eines Betreuungsplatzes von 45 Stunden in der Woche, damit das möglich ist, und zwar ab dem zweiten Lebensjahr des Kindes. 

Man müsste doch eher sagen, wenn Kinder erst "attraktiv" werden, weil man sie wenig zu Gesicht bekommt, dann läge es nahe sich zu fragen, ob es denn angemessener sein könnte, auf Elternschaft zu verzichten.

Dass das Elterngeld ohnehin eine Prämie für Erwerbsteilnahme war und vor allem Besserverdiener eine Auszeit erlaubte, war von Anfang an klar.

Sascha Liebermann


28. Januar 2023

Ein "sinnsuchendes Wesen" benötigt kein "aktivierendes Instrument",...

...sondern eines, das seine Suche nicht behindert, deswegen ist ein BGE eine dieser Eigenheit angemessene Einkommensabsicherung.  Es war und ist ein Kennzeichen der bisherigen Sozialpolitik auf Aktivierung (oder auf "Anreize") zu setzen, weil davon ausgegangen wird, dass Bürger von sich aus nicht aktiv sind - und was heißt schon "aktiv". Wenn die Sozialpolitik Initiative hemmt, es an ihr aber grundsätzlich nicht mangelt, ist das kein Problem der Bürger, sondern eines der Sozialpolitik. 

Welche Verdrehungen in dieser Hinsicht die öffentliche Diskussion bestimmen, konnte man kürzlich wieder bei der Hans-Böckler-Stiftung erfahren, für die Erwerbsintegration ganz oben steht.

Sascha Liebermann

5. Januar 2023

Paternalismus nein, Anreize ja - Verhaltensänderungen als Ziel...

...eine treffende Anmerkung von Sebastian Thieme.

Was "Nudges" betrifft, so scheinen sie mir überschätzt oder ihre etwaige Wirkung unzureichend erklärt, denn letztlich sind sie - wie "Anreize" auch - nur Handlungsmöglichkeiten, deren etwaige Wirkung nicht durch die Möglichkeiten selbst erklärt werden kann, was in differenzierten Abhandlungen dazu durchaus so gesehen wird. In der öffentlichen, aber auch fachwissenschaftlichen Diskussion wird der Begriff überwiegend verkürzt, krude im Sinne der Außenlenkung von Handeln und teils widersprüchlich verwendet.

Als Lesehinweis sei hier auf einen Aufsatz von Deci und Ryan hingewiesen (deutsche Übersetzung), in dem es um Handlungsmotivierung geht, der eine vergleichsweise differenzierte Erklärung bietet.

Sascha Liebermann

8. November 2022

Nachdem nun die Fehlberechnungen pulverisiert wurden, bleiben wieder nur die Anreize,...

...vollkommen empirielos wird von dem Unionsverband etwas behauptet, von dem sogar die Auswertung der Bundesagentur für Arbeit erkennen lässt, dass es der geringste Teil an Leistungsbeziehern ist, den sie nicht erreicht mit ihren Maßnahmen (sofern das messbar ist, denn diejenigen, die ihren Anspruch nicht abrufen, werden nicht erfasst):

Sicher, man kann die Pflege von Vorurteilen gegen die Realität betreiben, nur wohin führt das? Geht man einen Schritt weiter und fragt, was denn hinter Verweigerung steckt bzw. ob wohl Personen, die sich verweigern, hilfreiche Mitarbeiter in Organisationen sein könnten, müsste man schon entsprechende Schlüsse ziehen. Dass Verweigerung auch etwas mit dem Druck zu tun haben könnte, der ausgeübt wird, kommt gar nicht in den Sinn. Noch abwegiger scheint der Gedanke, dass das Existenzminimum ohnehin vorbehaltlos zur Verfügung stehen sollte, wie BGE Eisenach deutlich macht, das Gemeinwesen eines der Bürger ist und diejenigen, die ihren Lebensmittelpunkt haben, gleichbehandelt werden sollten in dieser Hinsicht. Als würden sich Bürger von einer verfügbaren Absicherung zu etwas bewegen lassen, was sie nicht wollen, sie haben viele Gründe, Leistungen zu beziehen, die mit Verweigerung gar nichts zu tun haben. Aber was schert das schon den Unionsverband.

Sascha Liebermann

14. September 2022

Worum geht es bei der "Armutsfalle"?

Diese Frage wurde mir gestellt und zugleich darum gebeten, ob ich das kurz erläutern könne, da ich seit Jahren auf Forschungsergebnisse hinweise, die gezeigt haben, dass das "Theorem der Armutsfalle", wie es Georg Vobruba einst bezeichnete, haltlos ist oder besser ausgedrückt: das worum es geht, wäre viel differenzierter zu betrachten. Da Vobruba den Kern der Sache gut auf den Punkt gebracht hat, sei er zitiert. In einem Kurzinterview aus dem Jahr 2003, das nach der Veröffentlichung der Studie zur Armutsfalle geführt, wurde, sagte er dazu folgendes:

"In der Standardökonomie wird die These von der Armutsfalle vertreten, die bedeutet: Wenn der Abstand zwischen Lohnersatzleistung und dem alternativ erzielbaren Lohn nicht groß genug ist - wobei man nie genau weiß, wie viel groß genug ist - dann bleiben die Leute in Sozialleistungsbezug bzw. Sozialhilfe und stehen dem Arbeitsmarkt nicht mehr zur Verfügung. Wenn dies wirklich so ist, so unsere Überlegung, dann müssten die individuellen Sozialhilfebezugsdauern sehr, sehr lang, virtuell unbegrenzt lang sein. Das ist die logische Schlussfolgerung. An dieser Stelle hören viele einfach mit dem Denken auf und sagen: So ist das [...] Dass man zeigen kann - an einem schönen, forschungstechnisch überschaubaren und wichtigen Teilgebiet wie dem "Theorem der Armutsfalle" -, dass sich Anreizstrukturen nicht eins zu eins in Handeln umsetzen. Dass eben Menschen über eine eigene Rationalität verfügen und dass all jene Theorieansätze, die Handeln auf irgendeine Schmalspurrationalität zurückführen, im Ansatz verkehrt sind. Will man wissen, wie Menschen handeln, muss man sie anschauen und ihnen nicht irgendwelche Handlungslogiken wie Kuckuckseier unterschieben. Das allerdings wird gern gemacht, in der Ökonomie sowieso und bei den Sozialwissenschaften gibt es auch gewisse Tendenzen."

Zum Befund sagte er darüber hinaus:

"Und siehe da: Die überwiegende Anzahl der Sozialhilfeepisoden ist ziemlich kurz. Die Leute verlassen also das Sozialhilfesystem. Und das obwohl in der Tat in vielen Fällen der Abstand zwischen Lohn und Lohnersatzleistung nicht gerade groß ist. Anders gesagt: Die allermeisten Leute gehen auch dann arbeiten, wenn die zustehenden Lohnersatzleistungen relativ nah am beziehbaren Lohn liegen. Das haben wir in unserer Studie herausgefunden; und bisher habe ich keine entgegen lautende Untersuchung auf demselben Empirieniveau gesehen [...] Bei "Warum" fragt man am besten die Beteiligten selbst. Dabei haben wir eine Fülle von Motiven hervorgebracht. Und mein Eindruck ist - sofern man auf qualitativer Basis so was sagen kann: Ganz überwiegend wird mit Sozialhilfe rational umgegangen. Rational im Sinn der Lebensplanung, die die Menschen selbst haben."

Hier argumentiert Vobruba in meinen Augen viel zu defensiv, womöglich, weil er mit qualitativen Verfahren nicht vertraut genug ist. Seine Projektmitarbeiter können anhand von Interviewausschnitten (hier würde ich mir eine noch viel detailliertere Analyse wünschen) zeigen, dass die Gründe dafür, weshalb jemand im Sozialhilfebezug war oder auch geblieben ist, mit dem "Lohnabstand" nichts, mit vernünftigen Abwägungen zwischen der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und anderen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten viel zu tun hat. Erst wenn man - hier die Standardökonomie, aber durchaus auch die Soziologie -, wie Vobruba oben deutlich macht, den Menschen eine bestimmte Handlungslogik unterstellt, kann das Armutsfallentheorem ins Spiel gebracht werden. Der empirischen Überprüfung hält es nicht stand. Dabei ist nicht die Einsicht darein, dass die praktische Vernunft vielfältigen Gründen folgt, überraschend, überraschend ist vielmehr, wie ein Theorem in der wissenschaftlichen Debatte fortleben kann, das weder Hand noch Fuß hat. In Variationen tauchen die ihm unterliegenden Annahmen immer wieder in anderen Zusammenhängen auf, man denke nur an die Diskussion über das Ehegattensplitting.

Mehrere Beiträge, die aus der Studie berichten, finden Sie hier, zur Verwendung von "Anreiz" siehe hier. Wie Vobruba diese Frage im Zusammenhang mit einem BGE einschätzt, siehe hier. Zur fortwährenden Frage, wer denn die "unangenehmen Tätigkeiten" mache, siehe hier.

Sascha Liebermann

Man könnte auch einfach auf die Bereitschaft setzen...

...und wo sie nicht besteht, davon ausgehen, dass es dafür gute Gründe gibt (siehe hier). Dann müsste man nicht etwas über den grünen Klee loben, das nur eine Verbesserung innerhalb des bestehenden Systems mit sich bringt, ohne Sanktionen aufzugeben. Auch "Anreize" sprechen dem Einzelnen zuerst einmal ab, von sich aus bereit zu sein, "Anreize" sollen ja mehr sein als ein Angebot, es sei denn, hier sollen sie einfach für "Möglichkeiten" stehen, das sollte man dann besser sagen. Denn Angebote können ausgeschlagen werden.

Sascha Liebermann



 

1. August 2022

Realitätsfremde Vorstellungen - was können wir uns nicht leisten?

Die CDU hatte in jüngerer Zeit schon in verschiedenen Pressemitteilungen das Schreckgespenst an die Wand gemalt, siehe hier. Da scheint es eben an's Eingemachte zu gehen, wenn solche Entstellungen des Bürgergeldes stattfinden, das weder "Mitwirkungspflichten" aufgeben noch Sanktionen abschaffen will. Müsste man sich nicht eher fragen, ob wir uns diese realitätsfremde Vorstellung leisten können, Menschen bräuchten "Anreize" (siehe auch hier), um sich einzubringen? Das Grundgesetz kennt keine "Anreize" für den Bürgerstatus, für unbezahlte Arbeit winken auch keine oder es wird damit etwas ganz anderes gemeint. Eine Demokratie, die mit "Anreizen" locken würde (siehe hier und hier), wäre schon verloren, sie untergrübe die Bindungskräfte, die ein demokratisches Gemeinwesen benötigt. Wo sie in Frage stehen, gibt es einzig einen Weg: öffentliche Debatte auf der Basis von Argumenten und Wahlverfahren.

Sascha Liebermann

27. Mai 2022

Soziokulturelles Existenzminimum, Mitwirkungspflichten und Boni-Systeme

Sebastian Thieme hat in diesem Twitter-Thread bedenkenswerte Anmerkungen zu Sanktionen im Sozialgesetzbuch und dem diesbezüglich ambivalenten Urteil des Bundesverfassungsgerichts gemacht. An manchen Stellen scheinen mir Ergänzungen oder auch Nachfragen dazu angebracht.

Dass es eine Widersinnigkeit sei, das soziokulturelle Existenzminimum kürzen zu dürfen, dem sei hier nicht widersprochen, schließlich wird der Grundfreibetrag in der Einkommensteuer, der sich aus derselben Begründung legitimiert, auch nicht bei abweichendem Verhalten gekürzt. Darin kommt nun wieder die Ungleichbehandlung zwischen Erwerbstätigen und Nicht-Erwerbstätigen zum Ausdruck.

Thieme kritisiert dann zurecht die "schwarze Pädagogik" und das "Denken in Anreizen", stellt dem ein Boni-System gegenüber, das ebenso denkbar sei, aber kaum diskutiert werde. Ein Boni-System ist jedoch ebenso ein Anreiz-System, denn hier wird Wohlverhalten belohnt, also eine besondere Verhaltenskonformität bezüglich eines Zieles prämiert. Bonus- wie Malus-Systeme folgen der Anreiz-Logik gleichermaßen, allenfalls werden die Vorzeichen werden vertauscht.. Diese Erklärung von Handeln verkennt, was für Handeln das entscheidende Fundament bildet, die konkrete Haltung einer Person zur Welt. Deswegen wäre es angemessener, von autonomiehemmenden oder -verstärkenden Handlungsbedingungen zu sprechen, so wie Walter Edelmann herausgehoben hat, dass "extrinsische Motivation" verstärkend oder schwächend wirken kann, die Handlungsinitiierung auf Seiten des Indidivduums jedoch schon vorausgesetzt werden muss. Edelmann ordnet Anreize deswegen der Seite "intrinsischer Motivation" zu, ganz anders also, als sie gemeinhin benutzt werden. Will man der schon begriffssprachlichen Reduktion von Handlungsmotivation entgehen, sollte auf den unpräzisen "Anreiz"-Begriff verzichtet oder wenn das nicht, dann wenigstens komplex argumentiert werden - was selten vorkommt.

Mitwirkungspflichten, schreibt Thieme dann noch, können in der Tat als "Gängelei empfunden" werden, dem würde ich folgen. Den Blick auf die Wahrnehmung oder Deutung von Pflichten vorrangig zu richten, ist jedoch wiederum verkürzt, denn ob jemand etwas als Gängelei empfindet oder ob er tatsächlich gegängelt wird, ist nicht dasselbe. Hierzu gibt es zweierlei Varianten: den einen Fall, in dem eine tatsächliche Gängelei nicht als solche empfunden wird, was sie nicht besser macht; den anderen, in dem etwas als Gängelei empfunden wird, das jedoch keine ist, der Grund für die Deutung also woanders liegen muss. Die stigmatisierenden Folgen der Sanktionen im SGB beruhen nicht auf einem Gefühl, sondern auf einer strukturellen Stigmatisierung durch den Vorrang von Erwerbstätigkeit. Man kann sie nicht durch freundliche Umgangsformen aufheben, lediglich kann man die Konfrontation damit respektvoller gestalten.

Überhaupt ist es ein Phänomen der jüngeren Zeit, welch herausgehobene Bedeutung dem zukommt, was jemand fühlt, ohne genügend zu beachten, ob denn dieses Fühlen eine Grundlage in der äußeren oder der inneren Realität einer Person hat. Wenn davon die Rede ist, dass die Bürger sich mitgenommen fühlen sollen, müsste doch aus Gründen der Ernsthaftigkeit die Frage gestellt werden, ob sie denn zum einen mitgenommen werden oder selber gehen wollen, zum anderen ob sie tatsächlich ernst genommen werden und nicht nur sich ernst genommen fühlen können. Letzteres ist belanglos, wenn ersteres nicht der Fall ist, es handelte sich um einen Fall von Selbsttäuschung.

Sascha Liebermann

8. März 2022

"Anreize" können differenziert betrachtet oder als Joker für die verschiedensten Dinge genutzt werden,...

...in jedem Fall ist die Begrifflichkeit ungenau und verwirrend, in der Diskussion über Leistungsbereitschaft bzw. Leistungserstellung gehört sie zur etablierten Terminologie. Überwiegend werden sie in der im Titel  letzteren Version verwendet, wie man schon daran sehen kann, dass aus der Höhe z. B. des Arbeitslosengeldes auf eine nahezu direkte Wirkung auf die Leistungsbereitschaft von Arbeitslosengeldbeziehern geschlossen wird. Selbst wenn eingeräumt wird, dass die Zusammenhänge komplexer sind, mehrdimensional oder gar die Lohnhöhe für nachrangig gehalten wird, wird dennoch am Gebrauch des Begriffes festgehalten (kürzlich z. B. als es um das Bürgergeld ging, siehe auch hier). Walter Edelmann hat schon vor vielen Jahren dargelegt, dass ihn erstaunt, wie wenig Bedeutung intrinsischer Motivation beigemessen wird und hat dies bei Lehramtsstudenten festgestellt. Diese Grafik aus einem seiner Kurzbeiträge ist interessant, weil der "Anreiz" hier auf die Seite des Intrinsischen verlegt wird, vollkommen konträr zum verbreiteten Gebrauch:

Warum ist das interessant? Weil damit der Ausgangsimpuls immer in der Person liegt, das Intrinsische ist die Quelle für Handeln, das Extrinsische kann verstärkend wirken, nicht aber hervorbringend. Soziologisch ausgedrückt sind "Verstärkungen" autonomiefördernde oder -restringierend Handlungsmöglichkeiten - nicht mehr und nicht weniger, sie sind aber selbst nicht die Quelle von Autonomie. Denn sie muss schon herausgebildet sein, damit "Verstärkungen" greifen können, wenn man in dieser Terminologie bleiben will. Für die Herausbildung von Autonomie im Zuge sozialisatorischer Interaktion, die auf die Eigentätigkeit des sich die Welt erschließenden Subjekts angewiesen ist, lassen sich etliche Belege anführen, die offenbar jedoch kaum Eingang in diese Debatten finden, weil sie nicht rezipiert werden.

Schon mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass Befunde aus der dynamischen Armutsforschung in diese Richtung wiesen, Georg Vobruba und Kollegen haben das am Theorem der Armutsfalle gezeigt. Diese Ergebnisse waren für die Armuts- und Sozialpolitikforschung womöglich überraschend, weil dort in der Regel standardisierte Daten erhoben und ausgewertet werden. Schon die in der Studie ausgewerteten Verlaufsdaten waren aufschlussreich. Von der Warte der fallrekonstruktiven Forschung konnten diese Ergebnisse nicht überraschen, denn in Interviews, wie sie auch Vobruba und Kollegen geführt sowie ausgewertet hatten, zeigte sich alsbald die Vielfalt der Gründe, weshalb Leistungsbezieher im Bezug verbleiben. Rezipiert wurden diese Befunde offenbar nicht, wenn man gegenwärtigen Debatten folgt. Und so kann es ewig weiter gehen mit der Frage nach den "Anreizen", ganz gleich wie relevant der Ansatz ist, um Handeln zu erklären.

Sascha Liebermann

18. Februar 2022

Wirtschaftsdienst Zeitgespräch "Von Hartz IV zum Bürgergeld" - Annahmen und Engführungen

Das Zeitgespräch hatte ein bestimmtes Thema, von daher mag es nahegelegen haben, dazu beinahe ausschließlich Ökonomen einzuladen, deren Kurz-Vorträge zuvor schon auf der Website des Veranstalters als Beitrag erschienen waren. Eine fachliche Ausnahme bildete Michael Opielka, der gemeinsam mit Wolfgang Strengmann-Kuhn vortrug. Im Video des Veranstalters, das in der nächsten Woche veröffentlicht werden soll, ist, so steht zu hoffen, auch die Diskussion enthalten, die Gelegenheit zu Rückfragen und Klärungen gab. Ich möchte an dieser Stelle wenige Anmerkungen zu den Vorträgen und der Diskussion machen.

Zuerst einmal wurde in der Veranstaltung deutlich, wie mühsam und kleinteilig sozialpolitische Diskussionen sein können. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob sie von einer eher politikberatenden Warte geführt oder grundsätzliche Fragen gestellt werden, die gleichwohl für Politikberatung ebenfalls relevant sind. Ersteres umfasst Vorschläge, wie im bestehenden Gefüge angesetzt werden könnte, um Veränderungen zu erreichen, verbleibt aber im Gefüge des Bestehenden. Hier gilt es allerhand zu berücksichtigen. Große Bedeutung hat es dabei, welche Auswirkungen Veränderungen wiederum haben könnten, z. B. dass mehr Personen in den Grundsicherungsbezug eintreten, welche "Anreize" wünschenswert seien und welche nicht. Zweiteres, also die grundsätzlichen Fragen, richtet sich darauf, die Annahmen, auf denen das bestehende Gefüge beruht, zu hinterfragen, die in der Debatte bislang eher als gesetzt gelten - so auch überwiegend in dieser Runde. Solche Fragen richten sich darauf, warum Menschen so handeln, wie sie handeln und ob die Gründe nicht differenzierter sind, als in der Debatte angenommen.

Von besonderer Bedeutung ist hier stets, wie sich bei veränderten Bezugsbedingungen das Arbeitsangebot bzw. die Erwerbsteilnahme verändert. In den Vorträgen wie der Diskussion wurde immer wieder auf "Anreize" zurückgegriffen, entschieden sie doch darüber, welche Folgen Veränderungen in den Bezugsbedingungen haben könnten. Allerdings, wie in der sozialpolitischen Diskussion im allgemeinen, wird der Begriff in der Regel äußerst reduziert gebraucht. Die Rede ist stets von "extrinsischen" Anreizen und dabei geht es nur um einen einzigen: den Lohn im Verhältnis zu sozialstaatlicher Einkommenssicherung (für eine differenzierte Betrachtung von Anreizen siehe hier, z. B. den Beitrag von Walter Edelmann, ebenso auch Heckhausen und Heckhausen). Polemisch zugespitzt könnte man sagen, dass diese Annahme einem Modell von "mehr Geld ist gleich mehr Erwerbsteilnahme" folgen, ohne zu fragen, ob es nicht vielfältige Gründe geben kann, sich gegen eine Erwerbsaufnahme zu entscheiden, die mit dem "Lohnabstand" oder der "Transferentzugsrate" nicht direkt zu tun haben. Dass bei höheren Sozialleistungen das Arbeitsangebot zurückgeht, kann schlicht damit zu tun haben, es sich nun leisten zu können, andere wichtigere Aufgaben wahrzunehmen, wie z. B. die Fürsorge für Angehörige, Sorge um das eigene Wohlergehen, eine Auszeit (siehe auch den Beitrag von Evelyn L. Forget). Es gab durchaus Hinweise von manchen Teilnehmern der Runde, dass hier genauer hingeschaut werden müsste, die waren aber doch ziemlich zaghaft und wenig konkret. Es ist also keineswegs trivial, diese Diskussion differenziert zu führen, zumal es schon lange entsprechende Untersuchungen gibt, die genau das zum, Ergebnis haben. So haben Georg Vobruba und Kollegen sich der Frage in ihrem Buch "Wer sitzt in der Armutsfalle?" und einigen weiteren Veröffentlichungen, die aus einem Projekt hervorgegangen sind, gewidmet. Sie interessierten sich für die Behauptung, ob denn tatsächlich Leistungsbezieher (im konkreten Fall von Sozialhilfe) zum einen ausnahmslos lange solche Leistungen beziehen und ob für sie der Lohnabstand zwischen Sozialleistung und Erwerbstätigkeit ein relevantes Kriterium ist, um sich gegen Erwerbstätigkeit zu entscheiden. Weder die statistischen Verlaufsdaten zum Leistungsbezug noch die Interviews mit Leistungsbeziehern konnten das bestätigen. Vielmehr zeigte sich - was nun überhaupt nicht überraschend ist, wenn man mit Erhebung und Auswertung solcher Interviews vertraut ist -, dass es vielfältige Gründe für den Verbleib im Leistungsbezug gab, wobei der größte Teil der Bezieher nach einem Jahr ihn schon wieder verlassen hatte.

Es drängt sich die Frage auf, weshalb solche Erkenntnisse in der Sozialpolitik-Diskussion eine solche geringe Rolle spielen und in einer Diskussion wie der gestrigen sich nicht niederschlagen. Inwiefern hat das mit einer disziplinären Beschränkung zu tun (siehe hier), welche Rollen spielen Datentypus und Auswertungsverfahren (standardisiert, Zerlegung befragter Personen in Merkmalsträger, ohne Habitus und Deutungsmuster zu rekonstruieren), welche spielen Modellannahmen, die nicht hinterfragt werden (siehe z. B. hier, hier und hier).

Nicht zu vergessen ist, dass hinter diesen Modellannahmen die Frage steht, welches Menschenbild darin zum Ausdruck kommt. Es geht natürlich nicht darum, sich ein schönes Menschenbild auszusuchen, sondern zu erforschen, welches wir denn in der Realität vorfinden, sowohl in der Lebenspraxis im Allgemeinen im Vollzug von Handeln, in der politischen Ordnung, in Institutionen und letztlich in den Selbstdeutungen der Bürger. Dass in der gesamten Diskussion das kaum vorkam - Michael Opielka, meine ich, erinnerte immerhin daran -, obwohl die politische Ordnung in Deutschland ein ziemlich klares Menschenbild beinhaltet und zum Ausdruck bringt, erscheint dann geradezu rätselhaft.

Sascha Liebermann

27. August 2021

"Das Grundeinkommen ist wieder da – und soll die Marktwirtschaft retten" schreibt Christoph Eisenring...

 ...über das neue Buch von Thomas Straubhaar in der Neuen Zürcher Zeitung. Eisenring hatte schon das erste Buch Straubhaars zum Bedingungslosen Grundeinkommen "Radikal gerecht" rezensiert (siehe hier) und erwartbare, teils treffende Einwände vorgebracht. In der aktuellen Rezension geht es wieder um "Arbeitsanreize", die Eisenring ähnlich krude verwendet wie Straubhaar über die Jahre selbst. Wer behauptet, Erwerbsarbeit verliere aufgrund höherer Besteuerung an Attraktivität, sollte sich einmal damit befassen, welche Gründe es noch dafür gibt, erwerbstätig zu werden, dann würde die Deutung ungleich komplexer werden. Darauf habe ich in meinem damaligen Kommentar auch mit Verweis auf Ausführungen Karl Widerquists hingewiesen.

Entscheidend für die Einschätzung ist, wie differenziert die Motivierung von Handeln verstanden wird, da ist der Begriff "Anreiz" (siehe auch hier) nicht hilfreich, schon semantisch legt er eine Verkürzung nahe und in seinem Gebrauch in der fachwissenschaftlichen Literatur ist er häufig unterkomplex (obwohl es in der Psychologie durchaus komplexere Konzepte dazu gibt). Seine Attraktivität rührt sicher genau daher, dass er in einer Form Zusammenhänge vereinfacht, die so vereinfacht nicht zu verstehen sind, wie schon der Sozialphilosoph George Herbert Mead in "Mind, Self, and Society" sich zu zeigen bemühte.

Dass Eisenring hier wieder einmal die vermeintlich negativen Folgen eines BGE für die Bildungsambitionen junger Menschen herausstellt, ohne zu fragen, woher denn heute manche Verweigerung, Desinteresse oder gar Scheitern daran rührt, ist beredtes Zeugnis für eine verkürzte Betrachtung, für die der Gebrauch des Begriffs "Anreiz" steht. Siehe unsere Beiträge zu dieser Frage z.B.  hier und hier.

Straubhaar scheint auch in neuen Buch wieder ein BGE auf ein Mittel gegen etwaige Folgen der Digitalisierung zu verkürzen, die politische Dimension, es als Anteil der Bürger am Wohlstand des Gemeinwesens zu betrachten, ganz gleich, wie die Arbeitswelt sich entwickelt, sieht er anscheinend nicht.

Eisenring schreibt gegen Ende:

"Es [das BGE, SL] unterhöhlt einen zentralen Pfeiler unserer Gesellschaft: Wer von der Allgemeinheit Hilfe in Anspruch nimmt, sollte sich anstrengen, selbst wieder auf die Beine zu kommen. Solidarität ist keine Einbahnstrasse, sondern begründet eine Pflicht zur Selbsthilfe. Dazu passt das Motto «Fördern und fordern», das Straubhaar als «altbacken» abtut."

Kann man in einem Gemeinwesen leben, ohne Hilfe in Anspruch zu nehmen? Sind denn öffentliche Infrastruktur, Rechtssicherheit usw. keine Hilfe im weiteren Sinne? Der Kostgänger-Einwand greift nur, wenn die umfassenden Abhängigkeiten aller voneinander in einem Gemeinwesen geleugnet werden, wenn also auf Loyalität der Bürger zur politischen Ordnung, Leistungen außerhalb der Erwerbsförmigkeit und Leistungen vorangehender Generationen verzichtet werden könnte. Das ist jedoch unmöglich. Eisenring verkürzt Eigenständigkeit auf den Erwerbsbeitrag - das ist nur ein Aspekt des Zusammenlebens neben anderen ebenso wichtigen. Entscheidend aber bleibt die Stellung der Bürger im Gemeinwesen als Legitimationsquelle der politischen Ordnung - sie gilt bedingungslos.

Frühere Kommentare von uns zu Straubhaars Ausführungen finden Sie hier.

Sascha Liebermann

14. Juni 2021

Schreckgespenst Inflation - mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen wird es sie sicher geben...

...ist immer wieder zu hören. Im selben Atemzug wird häufig behauptet, das genau diese Frage eine Schwachstelle der BGE-Debatte sei - ganz ähnlich wie die "ungeklärte" Finanzierungsfrage -, es werde sich damit, so die Behauptung, ja gar nicht beschäftigt. Wie diejenigen, die das behaupten, darauf kommen, ist ihr Geheimnis, denn die Frage, ob Inflation entstehen könne, begleitet die Debatte schon lange. Man müsste sich nur die Mühe machen, ein wenig zu recherchieren, aber dann wäre der gesamte Gestus des Aufklärens nur halb so viel wert. Aus etwa 17 Jahren öffentlichen Vorträgen zu der Thematik kann ich sagen, dass diese Frage immer gestellt wurde. In der Literatur fallen die Einschätzungen keineswegs so eindeutig aus, wie es die Aufklärer gerne hinstellen (siehe die Hinweise unten), so "hart" scheinen die "Fakten", auf die sich manche berufen, nicht zu sein. Klarerweise kann es mit einem BGE zu Inflation kommen, wie es auch heute Inflation gibt und immer wieder geben kann, sie wird sogar direkt angestrebt, z. B. die Zielinflation im Euro-Raum. Nicht Inflation als solche, erst unverhältnismäßige wäre bedenklich. Weshalb wird daraus dennoch ein Schreckgespenst, das im Grunde immer dann drohen könnte, wenn Lohnerhöhungen erfolgen? Kürzlich hat der Wirtschaftshistoriker Carl-Ludwig Holtfrerich, der ein Standardwerk zur Inflation zwischen 1914 und 1923 geschrieben hat, der Wochenzeitung Die Zeit dazu ein Interview gegeben mit dem bezeichnenden Titel "Die Deutschen können nicht mit Schulden umgehen".

So wenig notwendig es zu bedenklicher Inflation kommen muss, so wenig lässt sich darüber sagen, was die Bürger mit dem BGE tun werden, genau das aber ist der entscheidende Punkt auch in der Inflationsfrage, denn alles hängt von den "Verhaltensänderungen" ab. Hier scheint nun der Abgrund sich zu öffnen, die ganze Fahrlässigkeit des Vorschlags tritt zutage. Erstaunlich ist daran nur, dass wir so tun, als wüssten wir heute, was die Bürger denn morgen tun werden. Wussten wir das etwa, als die Pandemie begann, wussten wir, ob die ergriffenen Maßnahmen denn überhaupt befolgt werden? Nein, das wussten wir nicht, wir konnten nur auf die Vernünftigkeit der Bürger setzen, nicht fahrlässig zu handeln. Diese ganze Offenheit der Zukunft ist also keine Eigenheit eines BGE, wenngleich die möglichen Veränderungen hier als viel weitreichender erscheinen - ja, eben, erscheinen. Sind sie es denn auch? Sie erscheinen dann so, wenn ein bestimmtes Verständnis davon vorausgesetzt wird, warum Menschen handeln, wie sie handeln. Wer meint, "Anreize" spielten die entscheidende Rolle, die Ausrichtung an "extrinsischer Motivation" sei führend, der muss zu diesen Schlüssen gelangen, weil doch angeblich alles an der Entschädigung durch Lohn bzw. Einkommen hängt. Wer allerdings davon nicht ausgeht und sich schlicht die heute schon leicht studierbaren Grundlagen unseres Zusammenlebens betrachtet, dass "Anreize" (siehe auch hier) eben nur mit "Präferenzen" im Zusammenhang zu etwas führen können, diese Präferenzen aber nicht individuell geschaffen werden, sondern sich in Auseinandersetzung mit kollektiv geltenden Normen und Regeln herausbilden, diese Präferenzen dann wiederum unterschiedlich sind usw., der gelangt durchaus zu anderen Schlüssen. Schon heute setzt das Gemeinwesen auf eine selbstverständlich bestehende Normbindung und es wird dies immer tun müssen (siehe Böckenförde-Diktum).

Hier wenige Beiträge, die sich mit der Frage, ob ein BGE zu Inflation führen könnte, beschäftigen. Die Auswahl ist sehr selektiv und rein zufällig: 

Thieß Petersen argumentiert in seinem Beitrag vor allem in eine Richtung: steigende Inflation, allerdings nennt er Bedingungen, unter denen das passieren würde, zwingend ist sie keineswegs. Petersen macht deutlich, dass etwaige "Verhaltensänderungen" darüber entscheiden, welche Folgen ein BGE haben wird und dass in der Standardtheorie hier Annahmen definiert sind.

Bernhard Neumärker hält es nicht für ein großes Problem, auch er gibt Bedingungen an, unter welchen Inflation entstehen und wie ihr begegnet werden könnte.

Sogar Heiner Flassbeck, vehementer Kritiker eines BGE, räumt ein, dass es eines ohne Inflation geben kann.

Philippe Van Parijs und Yannick Vanderborght gehen in "Basic Income. A Radical Proposal" auf diese Frage ebenso ein und legen abwägend dar, unter welchen Bedingungen Inflation eintreten könnte.

Auf der Website des Basic Income Earth Network gibt es ebenfalls Beiträge dazu, siehe auch die Frequently Asked Questions hier und über das Suchergebnis hier.

Sascha Liebermann

4. März 2021

Bildungsökonomik in "Wirtschaftsdienst" - treffende Anmerkungen

Siehe unsere jüngeren Kommentare zu dieser Thematik hier

15. Januar 2021

"Entgegen verbreiteter Annahmen nehmen erwerbslose Arbeitslosengeld-II-Beziehende in einem nicht zu vernachlässigenden Umfang (wieder) eine Beschäftigung auf"...

 ...stellt ein Beitrag von Katharina Dengler und Kathrin Hohmeyer im IAB-Forum heraus. Wie die Autoren  festhalten, ist diese Einsicht nicht neu. Siehe auch frühere Beiträge zu dieser Thematik hier, zur vermeintlichen Armutsfalle hier und hier.

13. Mai 2020

Große Ähnlichkeiten - das finnische Experiment angesichts eines unübersichtlichen Sozialstaats...

..., darüber spricht Marjukka Turunen unter anderem in einem Interview mit Zeit Online anlässlich des kürzlich vorgestellten Abschlussberichts. Neben einem sehr sachlichen Blick auf die Ergebnisse stellt sie heraus, was die gewonnenen Einsichten für eine Reform des in Finnland ähnlich unübersichtlichen Sozialstaats mit seinen vielen Einzelleistungen bedeuten können. Auch das ehemalige Mitglied des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit hatte vor Jahren darauf hingewiesen, dass auch die Grundsicherung anfangs darauf zielte, mehr auf Pauschalen zu setzen, um die Handhabung zu vereinfachen.

An einer Stelle sagt Turunen:

"Wir haben gelernt, dass es nicht reicht, ihnen einfach nur Geld zu schenken und zu hoffen, dass sich damit alle Probleme von allein lösen. Man kann Langzeitarbeitslosigkeit auch nicht als isoliertes Phänomen betrachten. Oft stehen dahinter Krankheit – psychisch oder physisch – und oder Drogen und Alkohol. Es muss also individuelle Hilfsangebote geben. Wir müssen Anreize und Sanktionen neu denken."

Alleine die Vorstellung, ein BGE könne alle Probleme lösen, ist ja äußerst weltfremd. Seriöse Befürworter behaupten so etwas auch nicht. Insofern ist ihre Einschätzung treffend, doch zugleich überrascht es, wenn sie meint, dies herausheben zu müssen. Zweierlei fällt auf: 1) Sie erwähnt nicht, welche Stigmatisierung vom Vorrang von Erwerbstätigkeit ausgeht, die Personen besonders trifft, die sie hier erwähnt. Diese Wirkung ist nicht zu unterschätzen. 2) Wie denkt man "Anreize und Sanktionen" neu, sie sind doch nur zwei Seiten derselben Medaille, und zwar der Vorstellung, Menschen brauchten "Anreize" (siehe hier und hier), um sich einbringen zu wollen. Es wäre angemessen davon zu sprechen, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die ein solches Engagement erschweren. Das erfordert indes einen anderen Blick darauf, warum Menschen tun, was sie tun.

Dann heißt es:

"ZEIT ONLINE: Kritiker des Grundeinkommens unterstellen den Empfängern gerne Faulheit. Haben die Teilnehmer die zwei Jahre auf dem Sofa verbracht?
Turunen: Natürlich nicht. Aber allein mit Geld holt man die Leute nicht in die Arbeitswelt zurück. Und auch wenn die Effekte auf dem Arbeitsmarkt nicht signifikant waren: Lohnarbeit ist nicht der einzige Maßstab für Erfolg. Laut unserer Umfragen wurde doppelt so viel Freiwilligenarbeit geleistet und andere unbezahlte Arbeit wie die Betreuung von Angehörigen stieg um ein gutes Drittel."

Keine überraschende Einsicht. Dann wieder das Anreiz-Theorem:

"ZEIT ONLINE: Aber sind 560 Euro im Monat nicht viel zu wenig?
Turunen: Unsere Experten haben das hoch und runtergerechnet. Aber Summen über 1000 Euro sind zu nah am Mindesteinkommen, da würden dann vielleicht wirklich die Anreize fehlen, sich einen Job zu suchen. Und es geht ja auch um die Solidargemeinschaft: Warum sollten Gutverdiener dann auch diese Summen kassieren? Und woher sollten wir die vielen Milliarden nehmen, die das kosten würde? Wir setzen auf eine Grundsicherung mit Obergrenze, die dem individuellen Bedarf angepasst wird."

Das ist auch ein Grund, weshalb bestimmte Einschätzungen zum BGE sich hartnäckig halten. Und die "Gutverdiener"? Gibt es in Finnland keine Steuerfreibeträge?

"ZEIT ONLINE: Ging es Ihnen mit dem Experiment auch darum, der Leistungsgesellschaft einen neuen Ansatz entgegenzusetzen?
Turunen: Nein, wir sind eine Leistungsgesellschaft, nach wie vor. Aber wir wollen die bürokratischen Hürden aus dem Weg schaffen und es den Menschen einfacher machen, Unterstützung zu bekommen – und zwar angemessene, individuelle Unterstützung."

Eben, ein BGE steht dem Leistungsgedanken nicht entgegen, es korrespondiert ihm, aber in anderem Sinne als heute.

Sascha Liebermann

5. Mai 2020

Nicht wirklich überraschend, es sei denn Handeln wird als Folge von Anreizen konzipiert...


...und "Anreize" sind die black box der Verhaltensforschung, siehe auch hier. Zugleich müsste man dazu übersehen, dass gesatzte Normen, also Rechtsnormen, nur eine Form der Normen darstellen und deren Wirksamkeit wiederum davon abhängt, dass sie für legitim gehalten werden (nicht für legal).

Sascha Liebermann