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19. September 2022

..."das Innovatiste ist das andere Menschenbild"...

...schreibt Samira El Ouassil auf Spiegel Online zum Bürgergeld-Entwurf der Bundesregierung nach der Vorstellung der Studie, die sanktionsfrei hat durchführen lassen. Aber spricht der Bürgergeldentwurf tatsächlich für ein anderes Menschenbild als im bisherigen Sozialstaatsgefüge oder eher für eine graduelle Veränderung im alten Menschenbild?

Dort, wo sie diese Einschätzung einführt, räumt sie zugleich ein, dieses "andere Menschenbild" schimmere  nur "ganz zart" durch. Mit Verve begrüßt sie diese Entwicklung:

"Der Staat muss hier nicht als autoritärer Vater oder als naive Nanny fungieren, sondern undogmatisch Voraussetzungen schaffen, die Menschen eine existenzielle Autonomie ermöglichen, gerade in Zeiten kollektiver oder persönlicher Krisen. Und das ist in der Tat eine Verschiebung in der staatlichen Wahrnehmung der Bürger:innen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind: Es geht nicht um Fordern und Fördern, sondern um ein Zugeständnis an die Mündigkeit und Eigenverantwortung."

Mündigkeit ist ein maßgebliches Prinzip, auf das unsere Demokratie gründet (siehe Art. 20 (2) GG), weder kann es da ein "Zugeständnis" geben noch bedarf es eines solchen. Wo diese Mündigkeit nicht Voraussetzung und zugleich Zweck des Handelns ist, wird gegen die Grundfesten dieser Demokratie verstoßen - das kann nicht graduell bloß Richtschnur sein. Die Verfasstheit unseres Sozialstaates allerdings widerspricht genau in dieser Hinsicht den Grundfesten der Demokratie, sie hinkt hinter ihnen her. Sanktionsbewehrte Existenzsicherung geht gerade nicht davon aus, dass der Einzelne das für ihn richtige und wichtige schon tut. Was El Ouassil lobt, ist ein Verbleiben in diesem Rückstand, der nur etwas geringer wird, aber groß bleibt. Nun ist das nicht, wie manche schreiben, mit Hartz IV erst in den Sozialstaat eingezogen, Sanktionen gehörten nach dem Zweiten Weltkrieg alsbald zu ihm dazu, wie im Bundessozialhilfegesetz (siehe auch hier und hier) in aller Deutlichkeit nachgelesen werden kann.

Verschiebt nun das Bürgergeld wirklich seine "Wahrnehmung" der Bürger? Allenfalls auf der Skala des Hinterherhinkens, nicht aber bezogen auf die Grundfesten, es sei denn, man würde das Befolgen des  Erwerbsgebots (das nicht aus dem Grundgesetz hervorgeht) als entscheidendes Kriterium für Mündigkeit erachten.

An einer späteren Stelle schreibt sie:

"Und das ist vielleicht die wichtigste Feststellung: Bürgergeld beziehen zu müssen, das insbesondere während eines Krieges und einer Energiekrise einfach immer noch zu wenig ist, kommt dem gesellschaftlichen Ausschluss nahe. Er ist für den Menschen als soziales Wesen vielleicht eine der schlimmsten Strafen. Schafft den bürokratischen Rohrstock vollends ab, die Armut selbst ist doch schon die schlimmste Sanktion."

Ist das nun ein Plädoyer für ein Bedingungsloses Grundeinkommen? Es müsste darauf hinauslaufen, dafür spricht auch, dass in Krisen diese Absicherung "gerade" notwendig sei.

Sascha Liebermann

18. Februar 2022

Wirtschaftsdienst Zeitgespräch "Von Hartz IV zum Bürgergeld" - Annahmen und Engführungen

Das Zeitgespräch hatte ein bestimmtes Thema, von daher mag es nahegelegen haben, dazu beinahe ausschließlich Ökonomen einzuladen, deren Kurz-Vorträge zuvor schon auf der Website des Veranstalters als Beitrag erschienen waren. Eine fachliche Ausnahme bildete Michael Opielka, der gemeinsam mit Wolfgang Strengmann-Kuhn vortrug. Im Video des Veranstalters, das in der nächsten Woche veröffentlicht werden soll, ist, so steht zu hoffen, auch die Diskussion enthalten, die Gelegenheit zu Rückfragen und Klärungen gab. Ich möchte an dieser Stelle wenige Anmerkungen zu den Vorträgen und der Diskussion machen.

Zuerst einmal wurde in der Veranstaltung deutlich, wie mühsam und kleinteilig sozialpolitische Diskussionen sein können. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob sie von einer eher politikberatenden Warte geführt oder grundsätzliche Fragen gestellt werden, die gleichwohl für Politikberatung ebenfalls relevant sind. Ersteres umfasst Vorschläge, wie im bestehenden Gefüge angesetzt werden könnte, um Veränderungen zu erreichen, verbleibt aber im Gefüge des Bestehenden. Hier gilt es allerhand zu berücksichtigen. Große Bedeutung hat es dabei, welche Auswirkungen Veränderungen wiederum haben könnten, z. B. dass mehr Personen in den Grundsicherungsbezug eintreten, welche "Anreize" wünschenswert seien und welche nicht. Zweiteres, also die grundsätzlichen Fragen, richtet sich darauf, die Annahmen, auf denen das bestehende Gefüge beruht, zu hinterfragen, die in der Debatte bislang eher als gesetzt gelten - so auch überwiegend in dieser Runde. Solche Fragen richten sich darauf, warum Menschen so handeln, wie sie handeln und ob die Gründe nicht differenzierter sind, als in der Debatte angenommen.

Von besonderer Bedeutung ist hier stets, wie sich bei veränderten Bezugsbedingungen das Arbeitsangebot bzw. die Erwerbsteilnahme verändert. In den Vorträgen wie der Diskussion wurde immer wieder auf "Anreize" zurückgegriffen, entschieden sie doch darüber, welche Folgen Veränderungen in den Bezugsbedingungen haben könnten. Allerdings, wie in der sozialpolitischen Diskussion im allgemeinen, wird der Begriff in der Regel äußerst reduziert gebraucht. Die Rede ist stets von "extrinsischen" Anreizen und dabei geht es nur um einen einzigen: den Lohn im Verhältnis zu sozialstaatlicher Einkommenssicherung (für eine differenzierte Betrachtung von Anreizen siehe hier, z. B. den Beitrag von Walter Edelmann, ebenso auch Heckhausen und Heckhausen). Polemisch zugespitzt könnte man sagen, dass diese Annahme einem Modell von "mehr Geld ist gleich mehr Erwerbsteilnahme" folgen, ohne zu fragen, ob es nicht vielfältige Gründe geben kann, sich gegen eine Erwerbsaufnahme zu entscheiden, die mit dem "Lohnabstand" oder der "Transferentzugsrate" nicht direkt zu tun haben. Dass bei höheren Sozialleistungen das Arbeitsangebot zurückgeht, kann schlicht damit zu tun haben, es sich nun leisten zu können, andere wichtigere Aufgaben wahrzunehmen, wie z. B. die Fürsorge für Angehörige, Sorge um das eigene Wohlergehen, eine Auszeit (siehe auch den Beitrag von Evelyn L. Forget). Es gab durchaus Hinweise von manchen Teilnehmern der Runde, dass hier genauer hingeschaut werden müsste, die waren aber doch ziemlich zaghaft und wenig konkret. Es ist also keineswegs trivial, diese Diskussion differenziert zu führen, zumal es schon lange entsprechende Untersuchungen gibt, die genau das zum, Ergebnis haben. So haben Georg Vobruba und Kollegen sich der Frage in ihrem Buch "Wer sitzt in der Armutsfalle?" und einigen weiteren Veröffentlichungen, die aus einem Projekt hervorgegangen sind, gewidmet. Sie interessierten sich für die Behauptung, ob denn tatsächlich Leistungsbezieher (im konkreten Fall von Sozialhilfe) zum einen ausnahmslos lange solche Leistungen beziehen und ob für sie der Lohnabstand zwischen Sozialleistung und Erwerbstätigkeit ein relevantes Kriterium ist, um sich gegen Erwerbstätigkeit zu entscheiden. Weder die statistischen Verlaufsdaten zum Leistungsbezug noch die Interviews mit Leistungsbeziehern konnten das bestätigen. Vielmehr zeigte sich - was nun überhaupt nicht überraschend ist, wenn man mit Erhebung und Auswertung solcher Interviews vertraut ist -, dass es vielfältige Gründe für den Verbleib im Leistungsbezug gab, wobei der größte Teil der Bezieher nach einem Jahr ihn schon wieder verlassen hatte.

Es drängt sich die Frage auf, weshalb solche Erkenntnisse in der Sozialpolitik-Diskussion eine solche geringe Rolle spielen und in einer Diskussion wie der gestrigen sich nicht niederschlagen. Inwiefern hat das mit einer disziplinären Beschränkung zu tun (siehe hier), welche Rollen spielen Datentypus und Auswertungsverfahren (standardisiert, Zerlegung befragter Personen in Merkmalsträger, ohne Habitus und Deutungsmuster zu rekonstruieren), welche spielen Modellannahmen, die nicht hinterfragt werden (siehe z. B. hier, hier und hier).

Nicht zu vergessen ist, dass hinter diesen Modellannahmen die Frage steht, welches Menschenbild darin zum Ausdruck kommt. Es geht natürlich nicht darum, sich ein schönes Menschenbild auszusuchen, sondern zu erforschen, welches wir denn in der Realität vorfinden, sowohl in der Lebenspraxis im Allgemeinen im Vollzug von Handeln, in der politischen Ordnung, in Institutionen und letztlich in den Selbstdeutungen der Bürger. Dass in der gesamten Diskussion das kaum vorkam - Michael Opielka, meine ich, erinnerte immerhin daran -, obwohl die politische Ordnung in Deutschland ein ziemlich klares Menschenbild beinhaltet und zum Ausdruck bringt, erscheint dann geradezu rätselhaft.

Sascha Liebermann

26. April 2021

Ein Bedingungsloses Grundeinkommen "verschiebt auch kategorial unser Menschenbild" meint Udo di Fabio

In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung von heute, Rubrik Wirtschaft, unter dem Titel „Im Hintergrund lauert Chinas Modell“ äußert sich Udo di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, auch zum Bedingungslosen Grundeinkommen. Seine Sorge vor einem Staatskapitalismus scheint diese Einschätzung zu tragen. Hier die ganze Passage:

"[di Fabio] Die Rentenausgaben des Bundes für die nicht beitragsgedeckten Leistungen sind schon ein gewaltiger Posten, der durch die demographischen Bedingungen gewiss nicht kleiner wird. Je mehr Steuergeld hier hineinfließt, desto mehr Menschen werden den Sinn von Sozialversicherungen hinterfragen, die ein tragender Baustein der Sozialen Marktwirtschaft sind. Es klingt dann sehr modern und scheint den gordischen Knoten zu durchschlagen, wenn man das ganze komplizierte System sozialer Sicherung durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzen will."

Hier lauert das erste Missverständnis, wenn di Fabio ein BGE so versteht, dass es das "ganze komplizierte System sozialer Sicherung" ersetzen soll. Diese Überlegung ist in der Diskussion jedoch eine eher randständige und folgt keineswegs aus einem BGE, sondern aus einer bestimmten Konzeptualisierung. Hier wäre schon eine klärende Rückfrage angebracht gewesen.

"[FAZ] Wäre das verfassungsrechtlich gedeckt?

[di Fabio] Die Idee klingt sympathisch, viele Progressive aus der Digitalwirtschaft sind begeistert. Aber das Modell kann weder erworbene Anwartschaften zum Verschwinden bringen noch daran vorbeigehen, dass der soziale Rechtsstaat dann doch wieder in jedem Einzelfall wird prüfen müssen, ob das bedingungslose Grundeinkommen dem konkreten Lebensbedarf entspricht. Bei eingeschränkten oder pflegebedürftigen Menschen reichen die Summen, die für eine zwanzigjährige voll Erwerbsfähige auskömmlich sind, jedenfalls nicht. Ein Versorgungsanspruch für alle gegenüber der staatlichen Gemeinschaft verschiebt auch kategorial unser Menschenbild. Wenn nicht die freie Entfaltung als Persönlichkeit am Anfang steht, sondern der Anspruch auf ein staatliches Einkommen, wird die Gemeinschaft mit ihren Herrschaftsinstrumenten, um dafür die Mittel aufzubringen, wichtiger als der Einzelne. Das Grundgesetz verfasst den Staat aber subsidiär, daher stehen die Grundrechte am Anfang, damit wir uns zuerst nach unseren Plänen frei entfalten können. In jeder Freiheit schlummert eine sittliche Pflicht, die Talente zu nutzen, auch damit andere am Erfolg teilhaben können."

Der Verweis auf die Digitalwirtschaft zeigt, dass di Fabio sich hier wohl eher über Zeitungslektüre einen Eindruck verschafft hat. Wen meint er denn? Die Diskussion ist erheblich breiter und es werden ganz andere Begründungen vorgebracht, auch in der öffentlichen Diskussion - von der akademischen ganz zu schweigen.

Welchen Stellenwert Anwartschaften langfristig haben werden, hängt davon ab, wie ein BGE ausgestaltet werden würde. Auf jeden Fall hätten sie einen anderen Stellenwert als heute, wenn ein BGE den Sockel bildete, zu dem Anwartschaften hinzukommen könnten. Macht man die heutigen Anwartschaften zum Ausgangspunkt für eine Einschätzung, was ein BGE (zwischen 1000 und 1200 Euro) leisten könnte, dann läge es etwa am Durchschnitt des Zahlbetrages der Altersrenten (2019) und des Arbeitslosengeldes I (2020). Ein BGE hätte hier also einen Egalisierungseffekt, ohne Anwartschaften darüber hinaus auszuschließen.

Die Frage des individuellen Bedarfes stellt sich anders, wenn denn der Sockel auf jeden Fall verfügbar wäre und bezüglich der Bedarfsfeststellung bzw. Bedürftigkeitsprüfung könnte im Unterschied zum BGE das Haushaltsprinzip greifen. In jedem Fall aber rückte, das wäre ebenso eine Folge eines BGE, ein anderer Zweck ins Zentrum des Sozialstaates, und zwar die Stärkung von Autonomie im Sinne von Selbstbstimmung, statt der Erwerbsbereitschaft bzw. -orientierung (siehe hier und hier). Di Fabios Einwand löst sich hier in Luft auf.

Ein BGE verschiebe "kategorial unser Menschenbild" - welches genau meint er? Die "freie Entfaltung der Persönlichkeit" ist keine, die freischwebend möglich wäre, sondern nur in Abhängigkeit von anderen zu denken ist. Das gilt nicht nur für Säuglinge, Kleinkinder und Jugendliche im Zuge der Sozialisation, es gilt ganz selbstverständlich für ein Gemeinwesen von Bürgern, denn es ist nicht möglich, ohne dass die Ordnung, auf die sich di Fabio bezieht, von den meisten getragen wird. Wer Kinder hat und sich ihnen widmen will, kann nicht gleichzeitig erwerbstätig sein, denn dann müssen sich andere um sie kümmern. Auch hier ist die "freie Persönlichkeitsentfaltung" davon abhängig, dass andere helfend bereitstehen, ganz gleich, ob sie dafür bezahlt werden oder nicht. Was also meint die Fabio, wenn er von dem Menschenbild spricht, das sich "kategorial" verschiebe? Es ist nicht das Menschenbild, das faktisch unser Zusammenleben ausmacht, es ist auch nicht das Menschenbild der Demokratie, es ist eher das Menschenbild, das - etwas salopp ausgedrückt - unser Denken über die Welt auszeichnet, nicht so sehr diese Welt selbst.

Es überrascht nicht, dass di Fabio einen Widerspruch zwischen BGE und dem Subsidiaritätsgedanken ausmacht, doch besteht er wirklich? Folgt man der Formulierung aus der Enzyklika Quadragesimo Anno, schließt der Subsidiaritätsgedanke keineswegs ein, erwerbstätig sein zu müssen (siehe hier und hier). Lediglich folgt der Sozialstaat heute diesem Gedanken, nicht aber sind es die Grundfesten der Demokratie, die ihn so auslegen. Das Grundgesetz kennt keine Erwerbsobliegenheit.

Sascha Liebermann

16. Juni 2020

"Das bedingungslose Grundeinkommen – eine Frage des Menschenbildes" oder des Blicks auf die Realität?

In seinem Beitrag auf FirstLife stellt Hannes Rolfes in groben Zügen Aspekte der Diskussion dar und plädiert für ein positiveres Menschenbild. Das kann man tun und auf die schöpferischen Fähigkeiten des Menschen verweisen, allerdings ist ein Menschenbild ja nicht einfach etwas, das man sich aussucht wie ein Kleidungsstück. Welches Menschenbild wir haben hat seinen Grund darin, wie wir über den Menschen denken. Darüber hinaus aber steht das vom Autor skizzierte negative Menschenbild im Widerspruch zu den praktischen Erfahrungen, die man leicht machen kann, denn auch im Alltag muss jeder Entscheidungen treffen, also "kreativ" sein in gewisser Hinsicht und sein Leben in die eigenen Hände nehmen. Die Grundfesten unserer Demokratie (Art. 20 (2)) macht die Zumutungen deutlich, die für uns alltäglich sind, dass wir nämlich auf die Mündigkeit der Bürger setzen, ihre Selbstbestimmung bzw. Autonomie. Wer ein negatives Menschenbild hat, muss sich die Frage stellen, ob es mit der Realität übereinstimmt. Das ist der Lackmustest.

Siehe unsere früheren Ausführungen zu Bedeutung des Menschenbildes hier und hier.

Sascha Liebermann

28. November 2019

Sanktionen oder Befähigung oder einfach: vom mündigen Bürger ausgehen?



So nachvollziehbar und naheliegend Saskia Eskens Haltung zu Sanktionen ist, so sehr ist doch die Vorstellung, "Menschen" müssten motiviert oder befähigt werden - was ja immer heißt: von anderen - nicht Lösung, sondern Teil des Problems. Befähigung ist mehr als Unterstützung, denn letztere setzt Eigenaktivität voraus, erstere nicht. Mangelt es wirklich an Motivation oder sind es nicht eher unangemessene Erwartungen, die an jemanden herangetragen werden, die es dann so erscheinen lassen, als mangele es an Motivation? Oder ist diese Erwartung gerade der Grund für Resignation? Wer unter Traumatisierungen leidet, bedarf ebenso wenig der Motivation, sondern einer angemessenen Unterstützung gemäß seiner Möglichkeiten. Das erfordert eine andere Haltung, es muss vom Einzelnen ausgegangen werden, nicht von Erwartungen anderer.

Sascha Liebermann

20. August 2019

"Ich bin fleissig, du bist faul" - ein Interview mit Philip Kovce...

...das vor kurzem bei Zeit Online erschienen ist. Anlass ist das Erscheinen des von ihm mitherausgegebenen Sammelbandes über "Bedingungsloses Grundeinkommen" bei Suhrkamp. An einer Stelle antwortet Kovce auf die Bemerkung, dass Menschen über sich selbst häufig anders denken als über andere:

"Kovce: Ja, es ist paradox. Die Unterstellung lautet: Ich bin fleißig, du bist faul. Ich weiß, worauf es ankommt, die anderen nicht. Dieses gespaltene Menschenbild ist insofern absurd, als Demokratie und Marktwirtschaft längst auf anderen Fundamenten ruhen. Demokratie lebt vom Vertrauen in die Mündigkeit der anderen, Marktwirtschaft vom Vertrauen in die Fähigkeit der anderen. Das Grundeinkommen würde die Grundlage dieser Zusammenarbeit sichern."

Siehe auch "Sozialstaat: 'Das bedingungslose Grundeinkommen macht nicht faul'", Interview mit Theo Wehner und Sascha Lieberman auf Zeit Online und zum Zusammenhang von Demokratie und BGE hier.

Sascha Liebermann

11. April 2019

"Zweifel an diesem idealisierten Menschenbild" - oder der Preis der Demokratie

Baukje Dobberstein hat jüngst einen Beitrag in ihrem Blog veröffentlicht, der zum Ausgangspunkt die Frage aufwirft, ob nicht in der Grundeinkommensdiskussion, hier auch in Bezugnahme auf Äußerungen von mir, ein "idealisiertes Menschenbild" entworfen werde. Im Grunde teilt sie die Idealisierung, doch gleichermaßen hat sie Zweifel daran. Sie schreibt zu Beginn:

„Die Idee des Grundeinkommens geht vom mündigen Bürger aus. Wer das nicht teilt, müsste konsequenterweise auch die Demokratie in Frage stellen. Nicht nur Sascha Liebermann macht solche Aussagen. Und es ist ja auch eine Menge Wahres daran. Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wäre wie Aufklärung 2.0, ein emanzipatorischer Schritt, ein Stück Befreiung aus der Knechtschaft der Arbeitgeber.

Doch ich habe auch immer wieder Zweifel an diesem idealisierten Menschenbild. Es kommt mir naiv und verklärt vor angesichts der realen Geschehnisse in unserem Land und auf der ganzen Welt."

Idealisiert, "naiv und verklärt"? Wer meine Ausführungen zur Demokratie kennt, weiß, dass ich nicht "das Gute" im Menschen feiere oder für ein "positives Menschenbild" plädiere. Meine Schlussfolgerungen habe ich ganz anders gewonnen. Dazu gehört auf der einen Seite ein Blick auf unser politisches Ordnungsgefüge, bei dem es sich gar nicht um eine Theorie oder eine philosophische Idee, sondern um reale Lebensverhältnisse handelt. Art. 20 (2) GG geht nicht von einem idealisierten Staatsbürger aus, der erst menschheitsgeschichtlich zu erreichen wäre, er wird schlicht als Tatsache vorausgesetzt, auf den sich die Volkssouveränität gründet. Nun kann man dem GG natürlich vorwerfen, dass genau darin die Idealisierung bestehe und die Wirklichkeit gar nicht so sei. Aber die Idealisierung ist ja gerade die Wirklichkeit in diesem Falle, wirkmächtig, zum Anfassen, auf die wir uns immer beziehen können und müssen, wenn wir in unserer Demokratie etwas in ihrem Geiste erreichen wollen. Das heißt nun nicht "Friede, Freude, Eierkuchen", alles sei gut, nein, Demokratie ist ein stetiges Ringen miteinander, ein Ringen um Ausgleich, es gibt keine Ur-Harmonie die wiedergewonnen oder ein für allemal erreicht werden könnte.

Steckt hinter den Zweifeln vielleicht doch die Hoffnung, es könnte diese Ur-Harmonie geben, den Zustand, in dem nichts mehr schief laufen kann? Es gibt keine Vollkommenheit und die Demokratie ist in vielerlei Hinsicht nichts anderes als ein tägliches Plebiszit (Ernest Renan). Naiv? Wenn man so will, ist die Demokratie naiv, wie sie eine Idealisierung darstellt, vielleicht ist sie aber auch nur die Herrschaftsform, die sich genau zu dieser Unvollkommenheit bekennt im Vertrauen darauf, dass sich ein Ausgleich finden lässt. Der erreichte Ausgleich muss einem nicht gefallen, das gehört dazu, dann muss von Neuem gerungen werden. Hat das eine Grenze? Ja, die harte, nicht überwindbare Grenze des Machbaren sind die Bürger, die etwas nicht haben wollen und die Verantwortung für die Folgen zu tragen haben. Das ist, was Mündigkeit auch meint.

Dann heißt es im Beitrag weiter:

"Ist die Mehrzahl der Bürger wirklich in der Lage, rationale, menschliche und nachhaltige Entscheidungen zu treffen? So viel Egoismus, Dummheit und Missachtung der Mitmenschen kann doch nicht ignoriert werden. Und ja, wenn man den Gedanken weiter verfolgt, dann stellt man die Demokratie tatsächlich auch mit in Frage. Und dann? Wer oder was sollte denn dann die Entscheidungen treffen? Kluge und gute Diktatoren hat es in der Menschheitsgeschichte nicht allzu oft gegeben. Das ist also auch keine Lösung."

Hier würde man gerne wissen, was genau die Autorin beschäftigt hat, denn es ist ein Leichtes, andere der Dummheit, des Egoismus usw. zu schelten, ohne genau zu sagen, worum es geht und ob diese Vorwürfe denn treffen, worum es geht. Kurzsichtigkeit muss mit Egoismus nichts zu tun haben, Wertvorstellungen sind über eine lange Zeit gebildet worden, noch immer war es der Wechsel zwischen den Generationen, der auch Veränderungsmöglichkeiten barg. Als sei es so einfach zu bestimmen, was denn rationale, menschliche und nachhaltige Entscheidungen sind, nach welchem Maßstab?

Dann folgt eine Schilderung aus der therapeutischen Praxis:

"Nachdem mich nachts solch pessimistische Gedanken umgetrieben haben, holt mich tagsüber die Realität wieder ein. Ein Patient berichtet davon, wie er im Jobcenter vom Sicherheitsdienst rausgeschmissen wurde. Obwohl er alles richtig gemacht hatte und seine Beschwerde gegen die Leistungskürzung rechtens war und sachlich vorgetragen wurde."

Bei allem Leiden, das hier erkennbar ist, das Gefühl des Verletztseins des Patienten, vielleicht der Erniedrigung, der womöglich ungerecht behandelt wurde, so war doch die Autorin im Jobcenter offenbar nicht dabei. Ist es nicht so, dass die Jobcenter etwas praktizieren, wozu der Gesetzgeber sie beauftragt hat? Und ist es nicht so, dass dieser Gesetzgeber noch immer die Mehrheit der Bürger hinter sich hat? Ist das egoistisch? Zugleich gibt es die Seite derer, die auf das Jobcenter treffen. So beklagenswert das ist, so kritikwürdig, so sehr sind sie gegenwärtig noch gewollt. Beklagenswert ist, wie das Beantragungssystem unseres Sozialstaats gerade diejenigen am härtesten trifft, die ihn am meisten brauchen, die ihre Interessen am wenigsten wahrnehmen können und ohne seine Leistungen besonders bedroht sind. Aber, spricht das gegen Mündigkeit?

Es ist doch aber deswegen nicht naiv oder idealisierend, auf das Fundament der politischen Ordnung zu verweisen, es macht deutlich, dass wir darüber steiten müssen, was das dort Niedergelegte praktisch bedeutet und ob wir als Bürger das noch so haben wollen - auch das setzt auf Mündigkeit.

Sascha Liebermann

22. März 2019

"Mama Colonel" - ein interessanter Film und wieder einmal Einsichten über die kulturellen Voraussetzungen...


...eines Bedingungslosen Grundeinkommens. In der Diskussion darum wird zu wenig der Blick auf die kulturellen und politischen Voraussetzungen gerichtet, die gegeben sein müssen, damit ein solches Vorhaben praktisch gelingen kann. Nur wenn  eine Rechtsgemeinschaft von Bürgern sich als Träger dieser Ordnung versteht, das Individuum um seiner und des Gemeinwesens selbst willen Anerkennung findet, ist ein BGE kein Almosen mehr. Siehe zu dieser Frage auch hier und hier.

Sascha Liebermann

5. März 2019

"Die Idee, dass Menschen faule Säcke sind, die man unter Druck setzen muss, passt ideengeschichtlich und normativ nicht zur SPD"...

...das sagte Gesine Schwan in einem Interview mit der taz, nicht aber, was ihr mit dem von der taz gewählten Titel in den Mund gelegt wurde. Zur Frage, ob der Mensch faul sei, äußerte sie sich gleich zu Beginn:

"Schröder sagte in der Bild-Zeitung den berühmten Satz, es gebe kein Recht auf Faulheit.
Ja. Die Idee, dass Menschen faule Säcke sind, die man unter Druck setzen muss, passt ideengeschichtlich und normativ nicht zur SPD. Aber sie passt zu autoritären Regimen. Menschen, denen so etwas unterstellt wird, fühlen sich gekränkt und ungerecht behandelt. Zumal es ihnen nicht von Unternehmerverbänden oder von Konservativen gesagt wurde, sondern von ihrer eigenen Partei, der SPD. Das produziert gravierende Vertrauensverluste."

Dieser Deutung sollte einmal nachgegangen werden. Jedenfalls hat die SPD, gerade aufgrund ihrer Tradition, ein eingeschränktes Solidaritätsverständnis, Erwerbstätigensolidarität statt Bürgersolidarität. Und hat Gerhard Schröder nicht großen Rückhalt in der SPD gehabt? Was sagt das nun über die SPD, wenn etwas vertreten wird, das nicht zu ihr passen soll? Der Vorrang einer Erwerbstätigensolidarität hat jedenfalls Folgen. Die Verbindung zwischen ihm und den Sanktionen im Sozialgesetzbuch ist keine Zufälligkeit und keine Missdeutung, sie folgt aus der Erwerbszentrierung. Sonst könnte man auf die Sanktionen ja verzichten, wenn denn "Arbeit" für alle so bedeutsam wäre und man sich schlicht darauf verlassen würde, dass die Bürger entsprechend sich einbringen (siehe auch hier). Dann würde auch hingenommen, wenn es nicht gelänge. Wenn jedoch "hart arbeitende Menschen", wie es nicht nur der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil ausdrückte, von anderen unterschieden werden, bleiben nur die nicht hart arbeitenden übrig. Von den gar nicht arbeitenden Menschen ist schon gar nicht die Rede, denn zwischen ihnen auf der einen, den arbeitenden und "hart arbeitenden" auf der anderen Seite liegen offenbar Welten.

Zum Konzeptpapier der SPD sagte Gesine Schwan:

"Der Staat soll die Menschen, die in Schwierigkeiten geraten sind, nicht von oben herab wie Bittsteller behandeln, sondern wie Partner. Wir alle können in missliche Situationen geraten. Ich empfinde diese Wertschätzung als Rückkehr zu dem, was die Sozialdemokratie ursprünglich ausgemacht hat."

Wer ist "der Staat" in diesem Fall? Wie ist denn über diejenigen, die in Schwierigkeiten geraten sind, in politischen Debatten gesprochen worden? Diese abstrakte Redeweise vom Staat verdunkelt doch, dass er nicht irgendwoher kommt und seine "Haltung" von einem anderen Stern bezieht. Sie kann sich auf einen breiten Konsens berufen. Man könnte es als Symptom der politischen Kultur in Deutschland sehen, dass der Staat als ein gefährliches Gegenüber betrachtet wird, welches der eigenen Kontrolle entglitten ist - dann muss er "zurückgeholt" werden, das müssen die Bürger wollen, wenn sie es ernst meinen (siehe auch hier).

Wie begründet Gesine Schwan, dass die SPD Sanktionen nicht ganz abschaffen will?

"Aber die SPD-Führung kann nicht übergehen, dass viele Anhänger der Sozialdemokratie eine bestimmte Auffassung von Anstand haben: arbeiten, fleißig sein, sich einbringen. Sie würden eine liberale Laisser-faire-Pädagogik nicht verstehen, die in der bürgerlichen Mittelklasse vielleicht gut ankommt. Es ist legitim, auf diese Menschen Rücksicht zu nehmen."

Sicher, es ist aus Sicht einer Partei, die Stimmen erringen muss, legitim, Anliegen ernst zu nehmen. Sie könnte aber genauso ernsthaft dazu beitragen, Vorurteile und Verzerrungen nicht weiter zu pflegen, indem sie selbst immerzu von "hart arbeitenden Menschen" spricht. Und wie ist es denn gegenwärtig, da die SPD diese Haltung nur allzuoft bedient hat, weshalb führte das nicht zu Stimmengewinnen?

Und direkt im Anschluss hieran heißt es:

"Ein bisschen Strafe muss sein, positives Menschenbild hin oder her?
Menschen müssen negative Konsequenzen spüren, wenn sie sich falsch verhalten. Das weiß jeder, der Kinder erzogen hat. Aber es ist ein großer Unterschied, ob ich Sanktionen in Ausnahmefällen anwende – oder ausnahmslos alle mit Drohungen gefügig machen will."

Also doch, nur, was heißt "falsch verhalten"? Und der Vergleich mit Kindern? Meint sie das ernst? Dass Kinder ein verlässliches Gegenüber in Gestalt ihrer Eltern benötigen, an denen sie die Welt erfahren, auch die Regeln, die darin gelten, ist unstrittig. Sind aber Erwachsene mit Kindern zu vergleichen? Erwachsene, die Bürger eines Landes sind, werden mit Kindern verglichen? Gesine Schwan scheint diese Verwechslung nicht zu stören. Sie spricht über Erwerbsarbeit so, als hänge an ihr das Wohlergehen der Demokratie. Das ist eine fatale Verwechslung, das eine ist etwas ganz anderes als das andere. Die Bürger tragen die politische Ordnung, sie sind als mündige eine unhintergehbare Voraussetzung, die der Staat nicht schaffen kann.

Wenn Sanktionen als Instrument zur Disziplinierung von Leistungsbeziehern gesetzlich vorgesehen sind, dann sind sie gesetzlich vorgesehen. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob nicht der Einsatz von Sanktionen beschränkt werden kann, indem die Bedingungen restriktiver formuliert werden, die gegeben sein müssen, damit sie eingesetzt werden dürfen. Dennoch sollen sie als ultimatives Mittel zur Verfügung stehen, davon rückt sie nicht ab. Doch, zu welchem Zweck, was wird damit erreicht, wenn es um Existenzsicherung geht? Das erwünschte Verhalten soll damit erreicht werden, indem man sie unter Druck setzen kann. Passt Gesine Schwan nicht zur Ideengeschichte der SPD oder ist es mit dieser doch anders, als sie zu Beginn gesagt hat?

Siehe einen Kommentar zu früheren Ausführungen Gesine Schwans hier.

Sascha Liebermann

30. Oktober 2018

"Nach dem Ende der Arbeit "...

...darüber schrieb Franziska Augstein in der Süddeutschen Zeitung und beschäftigte sich mit dem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Ein sonderbar einfallsloser Kommentar, der wieder einmal den Unwillen erkennen lässt, sich ernsthaft mit dem Thema zu beschäftigen. Dass man über manches Argument, das auch in der BGE-Debatte vorgebracht wird, trefflich streiten oder es für erheblich zu kurz gegriffen halten kann, ist klar. Weshalb aber wird so selten versucht, der Sache einmal ernsthaft nachzugehen. An einer Stelle schreibt Frau Augstein:

"Andere Vertreter des Grundeinkommens denken mehr aus Sicht der Geringverdiener und der Arbeitslosen. Sie müssen sich an den entscheidenden Fragen abarbeiten: Wirkt ein bedingungsloses Grundeinkommen motivierend oder hätte es denselben Effekt wie Hartz IV, das manchen eine traurige, bierselige Existenz auf dem Sofa vor der Glotze finanziert? Und: Könnte sich eine Volkswirtschaft das Grundeinkommen überhaupt leisten?"

Ist denn "die Existenz auf dem Sofa" ein Effekt von Hartz IV oder müsste da einmal weiter ausgeholt werden, um zu verstehen, weshalb jemand zu mehr nicht in der Lage ist? Und wenn es nur um "manche" geht, soll denn eine politische Lösung sich an Ausnahmen oder an der Regel orientieren? Wie Remo Largo zurecht kürzlich heraushob, wir tun uns enorm schwer damit, den Einzelnen nicht in normierte Schubladen zu stecken. Ob sich eine Volkswirtschaft ein BGE leisten kann, hängt davon ab, wie über Leistungsentstehung gedacht wird. Wir haben heute einen verteilbaren Kuchen, wie es so oft heißt, die Frage ist nur, wie er verteilt werden soll. Die Frage nach dem "Wie" ist zugleich eine danach, warum jemand bereit ist, überhaupt etwas beizutragen. Die "Arbeitsnorm" alleine erklärt nicht, weshalb sich jemand mit konkreten Aufgaben auseinanderzusetzen bereit ist. Diese Frage gilt es zu beantworten. Ein Blick auf die politische Ordnung würde helfen, aber sie wird von den Kritikern nicht ernst genommen.

Dann schreibt Augstein:

"Freilich, niemand weiß zu sagen, ob ein bedingungsloses Grundeinkommen motivierend wirken würde. Etliche Experimente wurden angestellt: in Kenia, Finnland, den USA, Kanada, Brasilien. Und sie glückten. Aber die Bedachten wussten, dass sie mit den Gratis-Zuwendungen zu Ausnahmemenschen wurden - und verhielten sich möglicherweise deshalb entsprechend verantwortungsbewusst."

Daran, ob Probanden es wissen oder nicht, entscheidet sich diese Frage nicht, doch der Einwand gegen Experimente ist vollkommen richtig, siehe hier. Daraus den Schluss zu ziehen, dass ein BGE zu riskant wäre, wäre einseitig. Was ein BGE tatsächlich verändern würde, lässt sich nur durch Einführung in Erfahrung bringen - ganz wie mit der Demokratie, die konnte vorher ebenfalls nicht ausprobiert werden. Das vergessen wir heute allzuschnell. Wer gestalten will in einer solch weitreichenden Frage, muss also gestalten.

Weiter schreibt Augstein:

"Ziemlich sicher ist: Wenn das Grundeinkommen einer afrikanischen Frau vom Dorf gegeben wird, ist es nützlich. Solche Frauen investieren das Geld mit Vernunft; sie schicken ihre Kinder zur Schule; sie gewinnen Achtung bei den machistischen Männern der Familie, was mitunter auf die gesamte Dorfgemeinschaft ausstrahlt. Was die Industrieländer angeht, sollte nicht unterschätzt werden, welchen moralischen Stellenwert die Arbeit einnimmt: Kaum ein Mensch will nutzlos zu Haus herumsitzen. Die meisten Hartz-IV-Empfänger würden liebend gern arbeiten."

Was ist hieran nun der Einwand gegen ein BGE? Segelt Augstein auf der Stilllegungsroute? Will Augstein eine Beschäftigungsgarantie, ganz gleich ob ein Arbeitsplatz noch benötigt wird oder nicht? Eine totale Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, damit dem "moralischen Stellenwert" entsprochen würde? Das führte direkt zu einer Sinnentleerung von "Arbeit" und damit zu einer Zerstörung des Leistungsethos, ein Problem, das sich schon heute erkennen lässt, wenn Arbeitsplätze als solches für wichtig erachtet werden, statt sie im Verhältnis zu Leistung zu betrachten.

Etwas später heißt es:

"Das Grundeinkommen wird als unverdienter Geldsegen betrachtet. Da spricht die Moral. Wenn es bloß um die Existenzsicherung ginge und nicht um eine auskömmliche Pension, dürften die Moralisten schweigen: Das Grundeinkommen wäre nichts anderes als ein Äquivalent von Hartz IV, das aus Sicht der bedürftigen Empfänger würdevoller ausgeteilt würde. Alle übrigen bräuchten es eigentlich nicht."

So, so. Aber würdevoller wäre das BGE nur, wenn es alle erhielten, damit würde die normative Stellung von Erwerbstätigkeit erst relativiert, so daß, wer nicht erwerbstätig wäre, sich dafür nicht mehr rechtfertigen müsste. Augstein denkt in Bedarfs- bzw. Bedürftigkeitsrelationen, das ist eben der Haken des heutigen Sicherungssystems. Es ist eben eine Frage dessen, welche Stellung den Bürgern im Gemeinwesen eingeräumt und wie diese abgesichert wird, dazu gehört auch Einkommen, denn Nicht-Erwerbstätigkeit muss man sich erst einmal leisten können. Mit einem BGE wäre es auf einfache Weise möglich.

Sascha Liebermann

10. Juli 2018

"Es wird Zeit, die Weichen zu stellen" - Richard David Precht im Interview...

...in der Sendung ttt (ARD). Mit seinem neuen Buch ist Precht omnipräsent und hat einen festen Platz in den Feuilletons und im Fernsehen. Mit prononcierten Äußerungen plädiert er für ein Bedingungsloses Grundeinkommen und leitet diese stets von etwaigen Folgen der Digitalisierung ab, auch wenn er einräumt, dass wir nicht genau wissen, was die Folgen sein werden.

Precht beschäftigte sich in den vergangenen Jahren immer wieder einmal mit dem BGE, äußerte sich skeptisch über die "humanistischen" Befürworter, die er mit den anthroposophischen gleichsetzte, auf deren Seite er sich nun zu schlagen scheint, wenn er der Perspektivlosigkeit der Gegenwart ein positives Menschenbild entgegensetzen will. Und dann scheint ganz kurz eine alternative Deutung dafür auf, weshalb ein BGE gerechtfertigt sein könnte ganz ohne Bezugnahme auf Digitalisierung und Arbeitsmarkt: "Mein Wahlrecht ist auch nicht an Bedingungen geknüpft" - und weshalb ist das so? Weil das Wahlrecht aus der Staatsbürgerschaft folgt und die Staatsbürger die Legitimationsquelle des demokratischen Gemeinwesens bilden.

Auch Precht hat sich schon so geäußert, dass man den Eindruck gewinnen konnte, er traue dem Bürger nicht allzuviel zu (siehe hier; siehe weitere Kommentare zu Prechts Ausführungen).

Sascha Liebermann


4. Juli 2018

"Erklär's mir, RWTH! Professor Ralph Rotte über das bedingungslose Grundeinkommen"



Ein Überblick über die Debatte, das Für und Wider sowie verschiedene Positionen. Allerdings wird manch wichtiger Aspekt überraschenderweise ausgelassen bzw. etwas missverständlich dargestellt. So ist das Projekt in Finnland nicht "aufgegeben" worden, es läuft lediglich aus und wird nicht verlängert. Vielleicht meinte Herr Rotthe das, angesichts der verkürzten Medienberichterstattung wäre hier Klarheit wichtig.

Es heißt an einer Stelle, dass wir "empirisch" nichts über die Wirkungen wissen. Das ist soweit richtig, gilt allerdings für jede Entscheidung, die in eine offene Zukunft getroffen wird. So wussten wird nicht, was die Euro-Rettungsschirme bewirken, was die Demokratie nach 1945 bringen würde und vieles mehr. Wir wissen auch nicht, was unsere Entscheidungen im Hier und Jetzt morgen nach sich ziehen werden. Der Hinweis ist so richtig wie banal. Von dieser Ungewissheit aus, kommte der Interviewte dann auf den Stellenwert von Menschenbildern in der BGE-Diskussion zu sprechen. Sie spielen eine erhebliche Rolle, wie so häufig, wird im Beitrag nicht zwischen realitätsfernen und -nahen Menschenbildern unterschieden. Würde man von einem Professor für Politikwissenschaft hier nicht eine schärfere Analyse erwarten können? Müsste nicht die Frage gestellt werden, ob das Menschenbild des BGE überhaupt etwas utopisch Zukünftiges ist oder nicht schon längst Grundlage unseres Zusammenlebens? Diese Frage lässt sich auf zwei Wegen empirisch beantworten, ohne dass ein BGE schon eingeführt sein müsste, zum einen mit Blick auf die Grundfesten der politischen Ordnung, zum anderen durch die Rekonstruktion handlungsleitender Überzeugungen, die für die Entscheidungsfindung sei es von Individuen, sei es von Kollektiven in der Vergangenheit maßgeblich waren. Nichts also würde der Weg über Modellsimulationen beschritten werden müssen, die die Vergangenheit lediglich in die Zukunft verlängern und das auf der Basis bestimmter Annahmen. Die rekonstruktive Sozialforschung würde aus dem Handeln in der Vergangenheit schlüsse darauf ziehen können, wie ein BGE sich zu diesen handlungleitenden Überzeugungen verhält. Wer mit den Verfahren der hermeneutischen Sozialforschung vertraut ist, den wird das nicht überraschen.

Entsprechend ist auch die Finanzierungsfrage nicht als Rechenaufgabe zu beantworten, die einen etwaigen Finanzbedarf simuliert - meist wird nur über die Ausgabenseite gesprochen, ohne die Einnahmeseite zu berücksichtigen. Sie stellt sich grundsätzlicher, weil es darum geht, warum Menschen handeln wie sie handeln, ob ein BGE Handlungsbedingungen für Leistungserbringung verbessern oder verschlechtern würde. Hier sind wir mitten in der Diskussion über die sogenannten "Anreize", die meist unterkomplex als bloß von außen auf ein Individuum einwirkende Stimuli betrachtet werden.

Wenn die Menschenbildfrage ideologisch betrachtet wird, das scheint Rothe näherzuliegen als das Empirische, dann muss einem eine Gemeinschaft mit BGE als fundamentale Veränderung vorkommen - eine in der öffentlichen Diskussion häufig anzutreffende Sichtweise. Diese Veränderung bezieht sich aber nicht auf das Menschenbild, das in der politischen Ordnung Deutschlands zum Ausdruck kommt, sondern lediglich auf dasjenige, das sich in der Sozialstaatskonstruktion wiederfindet. Beides ist nicht identisch, vielmehr handelt es sich um einen strukturellen Widerspruch zwischen dem einen und dem anderen (zu einer Erläuterung siehe hier). Hier könnte eine empirische Betrachtung ansetzen und die Folgen des Widerspruchs untersuchen, wozu ich versuche Beiträge zu leisten. Von dort aus wäre leicht aufzuzeigen, was ein BGE leisten könnte. Vorhersagen sind, wie oben schon erwähnt, selbstverständlich nicht möglich - die Zukunft kann nur gestaltet werden durch Vollzug, nicht durch Simulation.

Von der politischen Ordnung aus gedacht geht es beim BGE also gerade nicht um ein "ganz anderes Gesellschaftsbild", es geht um eine Fortentwicklung des Sozialstaats im Geist der Demokratie, während der bestehende Sozialstaat, der politischen Ordnung hinterherhinkt.

Ob ein BGE gewollt ist, lässt sich ebenfalls nur praktisch beantworten, durch Willensbildung und das Gewinnen von Mehrheiten. Der Gestaltungswille entscheidet also, wenn er da ist, stellen sich manche Fragen anders, die heute im schlechten Sinne theoretisch zu beantworten versucht werden durch Simulationsmodelle.

Sascha Liebermann

12. Juni 2018

" Das Kreuz mit den Sanktionen im Hartz IV-System" und die Menschenbildfrage...

 ...darüber schreibt Stefan Sell wieder einmal in einem sehr informativen Beitrag (siehe auch sein Interview im Deutschlandfunk).

Es gehe bei der Haltung gegenüber Sanktionen, die ganz der "Fördern und Fordern"-Logik entsprechen, um zwei verschiedene Menschenbilder. Auf der einen Seite fänden sich diejenigen, die Sanktionen für notwendig halten, auf der anderen die, die die Drangsalierung kritisieren. Obwohl das Bundesverfassungsbericht die Unverfügbarkeit des Existenzminimums sicher gestellt habe und nun schon mehrere Jahre eine Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Gotha beim BVerfG auf eine Entscheidung wartet, gelte bislang, dass das Existenzminimum eben doch verfügbar sei - d. h. gekürzt werden könne. Sell hofft auf das Bundesverfassungsgericht - darauf hofft man in Deutschland oft, doch letztlich ist der politische Wille ausschlaggebend (siehe zur Kritik an der Überhöhung des Bundesverfassungsgerichts den Beitrag von Ingeborg Maus hier und hier). Wer nun ernst machen will damit, Sanktionen der Vergangenheit angehören lassen zu wollen, kommt nicht umhin, sich mit ihrem Zweck zu beschäftigen, denn auch vor der Agenda 2010 waren Sanktionen schon vorgesehen (siehe hier). Wer sie also nicht mehr haben will, muss über ein Bedingungsloses Grundeinkommen reden.

Sell hätte für ein solches Nachdenken einen einfachen Ansatzpunkt, den er offenbar nicht sieht, und zwar das Grundgesetz als Ausdruck der politischen Ordnung in Deutschland (den sehen andere allerdings auch nicht, wie z. B. Thomas Sattelberger, Kardinal Marx). In ihm kommen nicht mehrere Menschenbilder zum Ausdruck, sondern nur eines. Es gibt z. B. keine "Erwerbsobliegenheit" darin. Zieht man aus Art. 20 GG die entsprechenden Konsequenzen, führt am Bedingungslosen Grundeinkommen kein Weg vorbei, denn das dem BGE innewohnende Menschenbild entspricht dem Grundgesetz und damit den Voraussetzungen unserer Demokratie. Ein kleiner Schritt also bis zum BGE, ein großer für die Apologenten des Vorrangs von Erwerbstätigkeit.

Sascha Liebermann

4. Oktober 2017

"...kann auch die Pflicht des Staates sein, seine Bürger zu fordern [...] im Interesse der Betroffenen"...

...das stammt nicht von Andrea Nahles (SPD) oder Clemens Fuest (ifo-Institut), nein, Marcel Fratzscher (DIW) hat sich so geäußert, und zwar in einem Beitrag für Wirtschaftsdienst.

Die Passage lautet in Gänze:

"Wir wissen aus der Glücksforschung, dass Zufriedenheit mit dem eigenen Leben nur relativ schwach vom Einkommen und den eigenen wirtschaftlichen Bedingungen abhängt. Genauso wichtig ist es, Teil der Gemeinschaft zu sein, Anerkennung und Respekt zu erhalten und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Deshalb ist eine Umwandlung des gegenwärtig bedingten Grundeinkommens in ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht zielführend und muss nicht zu mehr Lebenszufriedenheit und Glück führen. Ganz im Gegenteil, es ist nicht nur das Recht, sondern kann auch die Pflicht des Staates sein, seine Bürger zu fordern, und dies nicht nur zum Wohle der Gemeinschaft, sondern auch im Interesse der Betroffenen. Natürlich besteht die Gefahr, dass ein Fordern des Staats schnell paternalistisch werden kann und die Freiheiten des Individuums einschränkt. Das sollte es nicht sein. Aber ein solcher Paternalismus kann meist das kleinere Übel im Vergleich zur staatlichen Ignoranz gegenüber dem Einzelnen sein." (Irrweg des bedingungslosen Grundeinkommens, in: Wirtschaftsdienst 2017, H 7, S. 522)

Fratzscher kann sich schlicht nicht vorstellen, dass "Teil der Gemeinschaft zu sein, Anerkennung und Respekt" durch ein BGE in einem grundsätzlichen Sinne realisiert werden, und zwar gerade, weil der Einzelne so genommen würde, wie er ist. Er muss nach nichts streben, er muss nichts leisten oder geleistet haben, um diese Anerkennung zu erfahren. Genau diese elementare Erfahrung enthält der Geist der "Arbeitsgesellschaft" uns vor, obwohl wir in einer anderen Hinsicht diese Erfahrung machen: als Staatsbürger, da werden wir einfach genommen, wie wir sind - Träger von Grundrechten, souverän. Fratzscher plädiert ausdrücklich für Paternalismus, weil der Staat doch besser weiß, was im Sinne der "Betroffenen" ist. Schon diese Begriffswahl ist bezeichnend, denn zu "Betroffenen" werden die Bürger, weil der Staat ihnen gegenüber sich etwas anmaßt, ohne Not. Der Staat wird zum Zwangshelfer. Wenn Fratzscher nun diesen Paternalismus verteidigt, weil er "das kleinere Übel im Vergleich zur staatlichen Irgnoranz gegenüber dem Einzelnen" sei, so unterstellt er, dass das BGE bzw. ein Staat, der es einführe, den Einzelnen ignoriere. Wie kommt er darauf?

Fratzscher ist allerdings nicht alleine mit dieser fürsorglichen Haltung, die letztlich dem Einzelnen abspricht, es in der Regel am besten zu wissen. Wer das BGE als Stilllegungs- oder Stillhalteprämie bezeichnet, legt eine ähnliche Haltung an den Tag.

Der gesamte Beitrag ist ein erstaunliches Dokument dafür, sich mit einem Vorschlag nicht differenziert auseinanderzusetzen. Für etliche Behauptungen, was "die Befürworter" sagen oder schreiben, werden keine Quellen benannt. Wissenschaftliche Publikationen zum BGE werden im ersten Teil kaum erwähnt. Fratzscher ist immerhin Präsident des Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, eine öffentlich finanzierte Forschungseinrichtung.

(Siehe auch frühere Beiträge zur Ausführungen Fratzschers)

Sascha Liebermann

28. August 2017

„Das ist Rente ab Geburt“ meint Christian Lindner (FDP) zum Bedingungslosen Grundeinkommen…

...anlässlich einer Wahlveranstaltung in Lüdenscheid fest. Recht hat er und ruft seine sonderbar widersprüchliche Äußerung über sein Menschenbild und das BGE in Erinnerung. Im Gespräch mit Konstantin Faigle beschwor er zum einen den Tatendrang des Menschen, seinen Drang, die Welt besser zu machen, zum anderen sorgte er sich darum, dass ein BGE „missbraucht“ oder „missverstanden“ werden könnte. Wenn die Menschen nun nach seiner Überzeugung den Tatendrang zur Verbesserung der Welt „eingebaut“ haben, wie sollte das BGE dann die befürchtete Wirkung haben können. Zweifelt Lindner dann doch an seinem Menschenbild? Das müsste er eigentlich.

Sascha Liebermann

10. Januar 2017

Ist Erwerbsobliegenheit Bestandteil des Menschenbildes des Grundgesetzes?

Das Netzwerk Grundeinkommen, namentlich Ronald Blaschke, wies schon im Dezember des alten Jahres auf eine aktuelle Studie der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages mit dem Titel "Rechtliche Voraussetzungen für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens in Deutschland" hin. Die Studie versucht, wie der Titel schon zu erkennen gibt, zu klären, ob es verfassungsrechtliche Bedenken oder Hindernisse für die Einführung eines BGE geben könnte. Dazu hatte sich früher schon Michael Brenner mit einer Studie zum Solidarischen Bürgergeld befasst.

Besonders interessant ist in der jüngst vorgelegten Studie ein  Passus am Ende auf S. 6 f. Dort heißt es:

"Die im Schrifttum zum Teil geltend gemachten Zweifel, ob die Gewährung eines bedingungslosen Grundeinkommens mit dem Menschenbild des Grundgesetzes in Einklang stünde und daher die Einführung verfassungswidrig sein könnte, greifen nach hiesiger Ansicht nicht."

Dass es sich bei der gesamten Studie um eine Einschätzung der Rechtslage handelt, sollte angesichts dieser Aussage nicht vergessen werden. Denn die Frage, ob ein BGE gewollt ist, ist keine juristische, sie ist eine eminent politische. Dass aus juristischer Sicht nun herausgestellt wird, was wir als Initiative seit Beginn unseres Engagements stark gemacht haben, ist erfreulich. Es sollte aber nicht zu der Verkehrung führen, dass nun die Verfassungslage über die Einführung eines BGE entscheidet, denn Verfassungen können verändert werden. Wäre ein BGE nach jetziger Lage nicht in Einklang mit dem Grundgesetz, spräche das nicht gegen das BGE, sondern gegen das Grundgesetz. Deswegen muss in Fragen politischer Gestaltung nicht zuerst juristisch gedacht und argumentiert werden, vielmehr verlangt es ein Denken in politischen Dimensionen. Politische Fragen sind immer Gestaltungsfragen zuallererst. Dass die moderne, auf Volkssouveränität und Bürgerrechte gegründete Demokratie auf die Selbstbestimmung der Bürger im Gemeinwesen und des Gemeinwesens durch seine Bürger setzt, ist Voraussetzung, nicht Ausdruck einer Verfassung. Aus diesem Selbstverständnis müssen dann entsprechende Rechtsnormen formuliert werden.

Dann folgt ein längerer Abschnitt, in dem ein verbreiteter Einwand wiedergegeben wird:

"Nach Ansicht von Holzner enthält das Grundgesetz zwar keine Pflicht zur Arbeit. Grundlage für die Menschenwürde und das verfassungsrechtliche Menschenbild sei jedoch die Annahme vom Menschen als einem eigenverantwortlichen, souveränen und selbstbestimmten Individuum, das seine Persönlichkeit frei entfalten kann. Die Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen sei wesentlicher Bestandteil dieses selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebens und damit der Selbstverwirklichung, da hiermit Eigenständigkeit durch die Schaffung einer wirtschaftlichen Grundlage so wie soziale Anerkennung verbunden seien. Darüber hinaus gewährleiste die Aufnahme von Arbeit auch die soziale Integration, durch die das Individuum seine notwendige und vom Grundgesetz vorausgesetzte Sozialisierung zumindest zum Teil erfahre. Der Sozialstaat und die Sozialsysteme basierten grundsätzlich auf der Eigenverantwortung und der Leistungsbereitschaft der Bürger, die die Transferleistungen finanzierten. Daher sei
jeder gefordert, im Rahmen seiner Möglichkeiten seinen Beitrag zur Solidargemeinschaft zu leisten und die Belastungen für letztere möglichst gering zu halten. Das bedingungslose Grundeinkommen bürge aber die Gefahr, dass sich ein Teil der Bevölkerung „mangels  Erwerbsobliegenheit“ aus der Arbeitswelt vollständig zurückzöge und so von einem eigenverantwortlichen Leben abgehalten würden. Es bestünden daher erhebliche Zweifel, ob das bedingungslose Grundeinkommen mit dem Menschenbild, das dem deutschem Staats- und Verfassungsbild zugrunde liege, vereinbar sei.

Ob, und wenn ja inwieweit eine zumindest theoretisch existierende „Erwerbsobliegenheit“ überhaupt Teil des verfassungsrechtlichen Menschenbildes und damit vom Grundgesetz geboten ist, bedarf an dieser Stelle keiner Beurteilung. Auch nach Holzner beschränkt die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens jedenfalls nicht die Möglichkeit des Einzelnen, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen und am Arbeitsleben teilzunehmen. Welche Anreize dafür bestehen, wäre wiederum von der konkreten rechtlichen Ausgestaltung des Grundeinkommens abhängig."

Hier ist die Studie erstaunlich defensiv, vielleicht rührt das von der juristischen Betrachtung her. Vom Politischen aus gedacht folgt aus der Stellung der Bürger im Gemeinwesen ausgedrückt in der bedingungslosen Verleihung der Bürgerrechte, dass ein Vorrang von Erwerbstätigkeit gegenüber anderen Verpflichtungen - die es sehr wohl gibt, ohne dass sie justiziablel sind - nicht angemessen wäre. Es sind Verpflichtungen, die sich aus dem Zusammenleben selbst ergeben.

Sascha Liebermann

9. Dezember 2016

Clemens Fuest zum Grundeinkommen...

...das in Die Zeit abgedruckte Interview, in dem es auch um das Grundeinkommen ging, steht auf der Website des Ifo-Instituts online. Sascha Liebermann hatte Äußerungen daraus, die der Spiegel zitierte, kommentiert, siehe "Clemens Fuest über den 'wirklichen Menschen'".

Update 12.7.2020: Da das Interiew auf der Website des ifo-Instituts nicht mehr zugänglich ist, hier der Link zur entsprechenden Seite bei Die Zeit.

1. Dezember 2016

Clemens Fuest (Ifo-Institut) über den "wirklichen Menschen"...

...im Unterschied zum "Menschenbild" der Grundeinkommensbefürworter, das zwar sympathisch, aber unrealistisch sei, so Clemens Fuest ("Das Menschenbild ist sympathisch, es hat nur wenig mit dem wirklichen Menschen zu tun." zitiert nach Die Welt). Mit dieser Haltung werden Grundeinkommensbefürworter wie Schuljungen, die vor sich hinträumen, abgewatscht.

Die Sicherheit, mit der Fuest den "wirklichen Menschen" zu kennen meint, kann man für erstaunlich oder überheblich halten. Man wüsste gerne, worauf er sich dabei beruft, wenn er das Menschenbild der Grundeinkommensbefürworter abtut, ihre Vorstellung letztlich zum Wolkenkuckucksheim erklärt. Fuest hat schon früher deutlich gemacht, wie er die Welt sieht, so wird er im Spiegel (20/ 2016, S. 81) zitiert:

"Aber die Erfahrung zeigt doch, dass die Jobs, die keiner gern macht, nur dann erledigt werden, wenn auf den Leuten ein gewisser Erwerbsdruck lastet."

Ist es illegitim, bestimmte Tätigkeiten nicht ausüben zu wollen? Soll es unmöglich sein, sich bestimmten Tätigkeiten zu verweigern, die mit den eigenen Neigungen und Interessen nicht in Übereinstimmung sind? In einer Demokratie jedenfalls, die nicht vorschreibt, was jemand mit seinem Leben anzufangen hat, ist diese Haltung vollkommen legitim. Deswegen schützt das Grundgesetz (GG Art 12) die freie Berufswahl. Wenn Fuest dagegen Druck für das angemessene Mittel hält, dann hält er von der freien Berufswahl nichts. Er zeigt, wes Geistes Kind er ist. Und wer sagt, dass diese Tätigkeiten denn nicht "gern" gemacht werden? Es könnte genauso gut an den Arbeitsbedingungen liegen, dass für manche Aufgaben niemand bereit ist, sich zu engagieren. Zumindest diese Differenzierung könnte man von einem Wissenschaftler erwarten. Es ist aber viel einfacher, die "Leute" dafür verantwortlich zu machen als die Unternehmen oder ganz einfach die Bedingungen, unter denen man heute in die Arbeitswelt einzutreten hat.

Im selben Spiegelartikel, kurz auf das erste Zitat folgend, geht es so weiter:

"Es [das BGE, SL] wird vor allem von Menschen propagiert, die die Erfahrung gemacht haben, dass sie besser und kreativer arbeiten, je freier sie sind. Aber das trifft auf die Mehrheit der Arbeit nicht zu. Die muss einfach gemacht werden."

Und weil dies so sei, wie Herr Fuest sagt, sollen Menschen nicht die Freiheit haben, sie abzulehnen? Werden dadurch die einen nicht zu Skalvenhaltern oder Erziehern der anderen? Von wem "muss die [Arbeit] einfach gemacht werden? Von Fuest offenbar nicht, er benötigt den Druck nicht - würde ich annehmen. Für sich würde er die Freiheit der Wahl wahrscheinlich in Anspruch nehmen, für die "Leute" sie aber nicht gelten lassen.

Das Menschenbild, das er für sympathisch, aber unrealistisch hält ist jedoch das Menschenbild der Demokratie. Will er sie denn dann abschaffen, weil der Mensch, der reale, der Demokratie nicht entspricht, die sich auf Mündigkeit und Souveränität der Bürger gründet? Wer ist hier nun unrealistisch, Fuest oder die gegenwärtige politische Ordnung? Es ließe sich manche Forschung anführen, die gezeigt hat, dass es zu den Selbstverständlichkeiten heutiger Lebensführung gehört, sich in das Gemeinwesen einzubringen, aber nach eigenen Fähigkeiten und Neigungen. Das ist also ein vollständig realistisches Menschenbild. Um das zu sehen müssten Theoreme aufgegeben werden, deren Geltung zwar behauptet, aber nicht empirisch überprüft wird, wie z. B. das der "Armutsfalle". Dieses Theorem behauptet schlicht, dass der Mensch eines Lohnanreizes bedarf, um den Bezug von Sozialleistungen aufzugeben. Die Forschung z. B. von Georg Vobruba und Kollegen hat schon vor vielen Jahren gezeigt, dass diese Annahme empirisch nicht gedeckt ist. Weitere Ergebnisse aus der rekonstruktiven Sozialforschung könnten ebenso hinzugezogen werden. Aber wen interessiert das, wenn man weiter Vorurteile pflegen kann?!

Sascha Liebermann

19. April 2016

«Schweiz ist ideal für Experimente mit dem Grundeinkommen»...

...meint der ehemalige griechische Finanzminister Gianis Varoufakis in der Schweizer Zeitung Der Bund. Man könnte hier allerdings einwenden, ob es sich überhaupt um ein Experiment handelt, denn die Voraussetzungen, die ein Bedingungsloses Grundeinkommen benötigt, sind schon vorhanden. Das Menschenbild des Grundeinkommens ist das Menschenbild der Demokratie (siehe hier und den Beitrag von Sascha Liebermann in diesem Band). Und diese Voraussetzungen müssen nicht erst herausgefunden werden (siehe hier)

29. März 2016

"Realitätsfremd, wirr und schlicht unbezahlbar"...

...schreibt die Schweizerische Gewerbezeitung über die Eidgenössische Volksinitiative "Für ein bedingungsloses Grundeinkommen". Liest man den Beitrag, gewinnt man den Eindruck, dass es sich entweder um ein vollständiges oder um ein mutwilliges Missverständnis handeln muss. Hier ein Auszug:

"Arbeit ist mehr als bloss Arbeit
Doch das Konzept der Volksinitiative ist noch verrückter. Es basiert auf einem unerfreulichen Menschenbild. Die Idee vom bedingungslosen Grundeinkommen setzt nämlich voraus, dass Menschen weder von alleine etwas leisten wollen noch etwas für sich tun können. Man kann es noch krasser ausdrücken – auch wenn sie das nie zugeben würden: Für die Supporter des bedingungslosen Grundeinkommens sind Menschen im Grunde genommen nichts als dumme, unfähige Konsum­automaten."