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20. August 2025

Hart arbeiten, fleißig sein, es muss sich lohnen,...


...es reicht nicht, einfach seine Arbeit (=Erwerbsarbeit) zu erledigen (ab Minute 5 etwa), "hart" muss gearbeitet werden, "fleißig" müssen die Leute sein. Wer dann "hart" gearbeitet hat, hat sich den Aufstieg und letztlich die Rente "verdient". Klingbeil bedient damit Aufstiegsmythen, als sei Vieles nicht von glücklichen Umständen abhängig. Woran wird darüber hinaus "hart" zu arbeiten festgemacht, muss man das sehen können, müssen sich die Leute sichtbar quälen? 
Klingbeil bedient mit dieser Sprache Vorurteile, weil sie nahelegen, es könne ohne weiteres bestimmt werden, was "hart" zu arbeiten auszeichnet. Dabei ist "harte" Arbeit eben nicht ohne weiteres sichtbar. Der Beruf des Lehrers wird hierzu häufig nicht gezählt, der des Erziehers ebensowenig, Sachbearabeitung in der Verwaltung wohl auch eher nicht, wenn man an die Vorurteile denkt - es könnten noch andere aufgezählt werden. Arbeiten etwa Softwareentwickler hart, die hocken doch nur am Computer und tippen?!
Wer was als "hart" beurteilt, ist eine ganz andere Frage, man muss sich nur entsprechende Gespräche über andere Berufsgruppen anhören, in denen leichtfertig über die "low performer" gesprochen wird, die die Leistungsträger nur behindern.
À propos - ganz vergessen wird natürlich, diejenige Leistung, die nicht in Erwerbsarbeit erbracht wird, also die sogenannte "unbezahlte Arbeit", aber die ist ja nur ein Hobby.

Sascha Liebermann

14. August 2025

"Soziale Integration" andersherum

Siehe unsere früheren Beiträge dazu hier

28. Juni 2023

"Integrationsversprechen von Arbeit"...

...ist in der Tat ein nicht nur problematisches, es ist ein irreführendes Argument, denn nirgendwo ist der Einzelne so austauschbar wie in der Erwerbsarbeit. Es ist also eine der größten Illusionen zu glauben, Sozialintegration vollziehe sich darüber, denn der Status des Einzelnen in Erwerbsarbeit ist verfügbar bzw. antastbar. In der politischen Vergemeinschaftung der Bürger als Bürger hingegen ist er es nicht, weswegen die Integration des Einzelnen umfänglich nur darüber sich vollziehen kann.

Siehe meinen früheren Kommentare dazu z. B. hierhier und jüngst wieder Axel Honneth z. B. hier.

Sascha Liebermann



11. Januar 2023

12. August 2020

"Wir müssen das Nichtarbeiten enttabuisieren" - eine wichtige Frage, auf die eine denkbar schwache Antwort gegeben wird...

...von Anna Mayr, Buchautorin und Journalistin, die im Deutschlandfunk zur ihrem Buch "Die Elenden" interviewt wurde. So wichtig das Thema, dem sie sich widmet, so eng ist der Blick auf die Lebenswirklichkeiten. Wenn sie davon spricht, "das Nichtarbeiten zu enttabuisieren", dann zäumt sie die Problemlage nur von der Seite auf, vorübergehende Nicht-Erwerbstätigkeit besser zu stellen. Dazu könnte ein verlängertes oder auch höheres Arbeitslosengeld I beitragen. Das helfe nun Arbeitslosengeld II-Beziehern wenig, wie sie einräumt, um gleichwohl keine Überlegungen darüber hinaus anzustellen. Über "unbezahlte Arbeit" verliert sie keine Silbe, was umso erstaunlicher ist vor diesem Hintergrund. Ob sie wohl vom Bedingungslosen Grundeinkommen schon gehört hat, es im Buch eine Rolle spielt? Nutzt man die Möglichkeiten von google books, erfährt man, dass ein Grundeinkommen im Buch sehr wohl eine Rolle spielt, sie Richard David Precht zwar zurecht für seine Äußerungen kritisiert, dass es für Kinder keines geben solle, aber das ist doch nur Prechts Ansicht, die darüber hinaus einem BGE widerspricht und nur seinen Paternalismus zu erkennen gibt. Mayr lässt dann aber denselben Paternalismus erkennen, wenn sie das BGE wie eine Stillhalteprämie behandelt und doch recht grob (zumindest in den zugänglichen Passagen) seine Möglichkeiten abtut. Den differenzierten Stand der Diskussion hat sie entweder nicht oder nur salopp zur Kenntnis genommen.

Sascha Liebermann


6. Mai 2019

"Georbetet hon i nia"...

...Gedanken zur bisherigen Auffassung von Erwerbsarbeit von Anna Gruber Steinacher, Verdings (Südtirol). Das Gedicht findet sich im Rundschreiben des KVW (Katholischer Verband der Werktätigen) Senioren, in Bozen, aus dem September 2017, S. 9.

"Georbetet hon i nia

„Was haben Sie gearbeitet“ hot a Proffessr a Beirin amol gfrogg,
i non nichts gitun hot sie nor gsogg,
i bin olm lei drhoama giwöin,
va dr weitn Welt hon i nöt viel gsöign,
i hon a nichts schtudiert,i hon gonz oanfoch zi löibm proviert.

Meischtns bini um fümfa zmorgits ausn Bött gschtiegn,
hon die Viechr versorg und af die Woada gietriem,
i hon gitörft zehn Kindr groasziahn,
hon versuacht sie zi ourdntlicha Leit zi biagn,
hon Nasler giputzt, hon Zöpfler gimocht,
und hon ihmenen s’Guatsein beigebrocht.

I hon ihmenen gizoag wo dr krouda Wöig geaht,
und dass man zi oan selber schteaht,
i hon giwerklt in Wold und afn Feld,
hon drbei nöt verdiant an Haufn Geld,
i hon giwascht, giputzt, gikocht,
und hon für olla a feins Drhoama gimocht.

In Monn honi bediant,
hon gschaug dass es in Gortn woggst und bliahnt,
bin olm in Bewöigung giwöin,
bin nia af dr fauln Haut glöign,
und dess olls hot für mi heint nou a groassis Gewicht,
ob gorbetet, na gorbetet sell hon i nicht."


Auf dieses Gedicht hat mich Sepp Kusstatscher, ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments, in einem Gespräch aufmerksam gemacht. Sepp Kusstatscher setzt sich schon seit langem für die Diskussion um ein Bedingungsloses Grundeinkommen ein.

Das Gedicht bringt auf den Punkt, was auch die nebenstehende Karikatur von Christiane Pfohlmann deutlich macht, die vor vielen Jahren schon veröffentlicht wurde.

Sascha Liebermann

2. November 2018

"...wir fordern ein bedingungsloses Recht auf Arbeit..."...

...das sagte der Erste Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, in seinem Statement (S. 8) anlässlich des Transformationskongresses am 30. Oktober in Bonn. In Gänze lautet die Passage:

"Nein, Kolleginnen und Kollegen, wir fordern kein bedingungsloses Grundeinkommen, wir fordern ein bedingungsloses Recht auf Arbeit, und zwar auf gute Arbeit, für alle!
Und das bedeutet auch Teilhabechancen für alle und nicht gesellschaftliche Spaltung.
Und das verlangt Bildung und Qualifikation und eine gerechte Verteilung des Arbeitsvolumens. Das ist unser Zielbild, das sind unsere Forderungen an die Arbeitgeber und an die Politik."

Worauf läuft denn Hofmanns Forderung hinaus, wenn nicht darauf, im Zweifelsfall lieber Arbeitsplätze zu erhalten, als menschliche Arbeitskraft durch Maschinen zu ersetzen? Dann würden Arbeitsplätze gerade nicht mehr an ihrem Leistungsbeitrag bezüglich der Bereitstellung von Gütern und Diensten gemessen, sie würden zum Selbstzweck. Damit wäre gar nichts Neues erreicht, sondern das befestigt, was seit vielen Jahren schon der Fall ist. Dass Hofmann nicht bemerkt, wie sehr er dadurch das Arbeits- bzw. Leistungsethos entwertet, wenn es ein "bedingungsloses Recht auf Arbeit" gäbe, kann einen erstaunen, zeigt allerdings, wie wenig klar offenbar ist, wozu "Arbeit", gemeint ist hier ja nur Erwerbsarbeit, dienen soll. Dass über den anderen, viel größeren Teil des Arbeitsvolumens in unbezahlter Arbeit nicht gesprochen wird, ist angesichts dieser Fixierung auf Erwerbstätigkeit, nicht mehr verwunderlich, sondern eher symptomatisch.

Zuvor (S. 6) sagte er dies:

"Liebe Kolleginnen und Kollegen, da auch in der digitalen Arbeitsgesellschaft Erwerbsarbeit der zentrale Platzanweiser in der Gesellschaft ist, prägt dies auch die Lebensstile."

Ganz wie Albrecht von Lucke sieht Hofmann nicht - vielleicht ist das für einen Gewerkschaft besonders schwer zu sehen -, dass eben nicht Erwerbsarbeit entscheidend ist, sondern die Stellung des Einzelnen im Gemeinwesen. Bürgerrechte sind keine Erwerbstätigenrechte (siehe auch hier), alle Staatsgewalt geht laut Grundgesetz von den Staatsbürgern, nicht aber von den Erwerbstätigen aus. Genau deshalb ist es ein Missstand, dass Einkommenssicherheit im Sinne eines verlässlichen Sockeleinkommens von Erwerbstätigkeit derart abhängt, wie es heute der Fall ist. Statt einen Weg aus diesem Missstand zu weisen, wird er von Hofmann noch veredelt. Wen wundert es, wenn die Gewerkschaften mit ihrem Bedeutungsverlust ringen.

Sascha Liebermann

31. Oktober 2018

"Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Offenbarungseid"...


...oder ist es diese Äußerung von Albrecht von Lucke, der das Hohelied der Erwerbsarbeit singt? Hat denn jemals eine "Gesellschaft" "Menschen" "in Arbeit" gebracht? Oder haben sie sich diese in der Regel gesucht und sich dafür entschieden? Sollte von Lucke es metaphorisch gemeint haben, dann mildert das keineswegs den Paternalismus, der in der ihm zugeschriebenen Äußerung zu erkennen ist.

"Abhängigkeit vom Staat"? Und da sucht wer noch nach Gemeinsamkeiten zwischen Marktliberalen und denjenigen, die die Position von Luckes teilen? Beide halten die Abhängigkeit von der Erwerbsarbeit offenbar für ein hohes Gut und vergessen, dass in einem politischen Gemeinwesen immer alle von allen abhängig sind. Deswegen sieht die Demokratie in den Staatsbürgern - nicht den Erwerbstätigen - die Legitimationsquelle "alle[r] Staatsgewalt". Das ist das egalitäre an der Demokratie, sie lebt von den Bürgern und ihrer Bereitschaft, die politische Ordnung zu tragen. Aber damit ist bei den Gewerkschaften kein Blumentopf zu gewinnen.

In der Metallzeitung wurde vor nicht allzulanger Zeit schon über das BGE geschrieben, siehe hier.

Sascha Liebermann

16. Oktober 2018

"Umkehren, Genossen!" - aber wohin, einfach zurück oder nach vorn?

Gesine Schwan rief in der Zeit ihre Genossen aus der SPD zum Umkehren auf, aber wohin? Der Beitrag war noch vor der Landtagswahl in Bayern erschienen.

Ihre Diagnose beginnt damit, die Erfahrungen, die Grund dafür seien, die AfD zu wählen, ernst zu nehmen:

"Folgt man verschiedenen Analysen, sind dies die wesentlichen Gründe, die sie antreiben: Sie fühlen sich nicht angemessen anerkannt und wertgeschätzt, empfinden einen massiven Macht-, Zugehörigkeits- und Kontrollverlust in ihrer Arbeits- und Lebenswelt, und sie haben Angst vor der Zukunft."

Sie verweist darauf, dass manche diese Sorgen mit Hilfe des Verweises auf einen Sündenbock oder mehrere zu artikulieren versuchen. Was könnte die SPD dem entgegensetzen?

"Kurzfristig dringend notwendig ist es daher, ihnen gegen ihr Ohnmachtsgefühl eine "Ermächtigungserfahrung" zu bieten, ihnen die Chance auf eine konkrete Verbesserung und Gestaltung ihrer Situation zu bieten. Finanzielle Wahlversprechen reichen nicht aus. Das bewährte sozialdemokratische Konzept der Mitbestimmung und Teilhabe muss wieder fruchtbar gemacht werden, und zwar möglichst in übersichtlichen, vor allem kommunalen Kontexten."

So in etwa geht es in dem gesamten Beitrag, konkrete Vorschläge oder zumindest Skizzen, was denn anders gemacht werden könnte, fehlen. "Mitbestimmung und Teilhabe" sind in der Sozialdemokratie jedoch vor allem über Erwerbsarbeit definiert, damit bliebe die SPD eben im alten Fahrwasser, unbezahlte Arbeit bliebe degradiert, Arbeitsplätze würden höher veranschlagt als Leistung. Das Gemeinwesen bliebe eine Erwerbstätigengsellschaft, statt als Bürgergemeinschaft (siehe auch hier) verstanden zu werden. Das wäre also die Umkehr, eine in die Vergangenheit.

Verantwortung wird zugleich unkenntlich gemacht:

"In den letzten Jahrzehnten sind die Wirtschaft und in ihr die Arbeitsplätze – ein zentraler Bereich für Kontrolle und Selbstwertgefühl – dem Regulierungs- und Schutzbereich des Staates immer mehr entglitten. Politische Deregulierung und ökonomische Globalisierung haben die nationale Politik überall in der westlichen Welt spürbar entmachtet."

Das klingt gerade so, als sei diese Entwicklung nicht durch politische Entscheidungen befördert worden, als habe man nicht den größten Niedriglohnsektor Europas schaffen wollen, wie einst der Bundeskanzler Gerhard Schröder es vor Augen hatte. An anderer Stelle räumt Schwan das durchaus ein. Dann heißt es z. B.:

"Inzwischen hat die SPD viele der negativen Folgen der Agenda 2010 revidiert, vor allem hat sie in der jetzigen Legislaturperiode dafür gesorgt, dass der längst fällige Mindestlohn eingeführt wurde. Das wird ihr als Juniorpartner in der großen Koalition allerdings kaum zugerechnet, und den Kern der Enttäuschung und Abwendung ehemaliger Wähler hat sie damit nicht erreicht."
"Viele der negativen Folgen" - davon sind Teile eingeschränkt worden, Sanktionen wurden jedoch verschärft. Andrea Nahles als Bundesministerin zeichnete sich gerade dadurch aus, darüber können schöne Vokabeln nicht hinwegtäuschen. Und auch früher, vor der Agenda 2010, gab es Sanktionsmöglichkeiten für Leistungsbezieher, die sich nicht an ihre Pflichten hielten, das wird heute gerne übersehen. Und der Mindestlohn? Er ist nahe am Hungerlohn.

"Dass die SPD frustrierte Wähler an die Rechte verloren hat, ist also zu erklären. Wie kann sie sie zurückgewinnen und Nichtwähler mobilisieren? Sie muss, um wieder Glaubwürdigkeit zu erlangen, Fehlentwicklungen der eigenen Politik eingestehen und korrigieren."
Ja, aber in welche Richtung, einfach zurück zum Alten? 

"Neben der Nichteinführung des Mindestlohns lag der wichtigste Fehler der Agenda 2010 darin, nach einem Jahr Arbeitslosigkeit das Arbeitslosengeld II auf niedrigem Niveau einzuführen, mit all den demütigenden Auflagen, z. B. das Angesparte offenzulegen und vor der staatlichen Unterstützung zu verbrauchen. Den Arbeitslosen wurde de facto die Schuld für Ihre Arbeitslosigkeit zugeschrieben. Das war eine bis heute anhaltende tiefe Kränkung. Hier muss die SPD aussprechen, dass dies ungerecht und falsch war, um die betroffenen Menschen zurückzugewinnen."

Eben, eine Rückkehr zur alten Arbeitsgesellschaft, kein Blick nach vorn, keine Erneuerung, die an der Stellung der Bürger im Gemeinwesen ansetzt und sie zum Maßstab für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik macht.

Sascha Liebermann

10. September 2018

10. Juli 2018

Herr Muscheid, der DGB-Chef, hat ganz gut begriffen…

 …dass die Menschen sich über Arbeit definieren. Aber was er nicht begriffen hat, ist, dass diese Definitionen Ausdruck bestimmter sozialer Deutungsmuster und damit ebensogut Produkte der Menschen sind, wie Autos, Computer etc. Die sozialen Deutungsmuster sind eng verknüpft mit den Denk- und damit zusammenhängend Handlungsmöglichkeiten. Mit der Erwerbung neuer Denkmöglichkeiten – etwa durch offene Debatten in einer unrestringierten Öffentlichkeit, wo die Fragwürdigkeit eingefahrener Deutungsmuster und ihr Scheitern angesichts der Realität thematisiert werden – verändern die Menschen ihre Deutungsmuster und mit der Veränderung der Deutungsmuster, der Art, sich ihrem Leben zu stellen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse.

Thomas Loer

29. Juni 2018

"...weil sich Menschen nunmal über Arbeit definierten..."...

...sei ein "bedingungsloses Grundeinkommen [...] eine Wahnsinnsidee", so der Landesvorsitzende Rheinland Pfalz des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Dietmar Muscheid, laut einem Bericht des SWR.

Der Wortlaut der Passage:

"Grundsätzlich sei festzustellen, dass bei Langzeitarbeitslosen die Depressions- und Selbstmordrate 20 Mal höher als bei Erwerbstätigen sei. "Besonders Männner beziehen ihre Identität häufig über die Arbeit", erklärte Trabert. Insofern löse eine lange Arbeitslosigkeit in vielen Fällen Selbstzweifel aus, einhergehend mit einem "Selbstwertverlust".

Aus dem Grund hält Gewerkschafter Muscheid ein bedingungsloses Grundeinkommen für den falschen Weg. Das sei eine "Wahnsinnsidee", weil sich Menschen nunmal über Arbeit definierten. Letztlich sei der einzige Weg, die Regelsätze für Hartz IV zu erhöhen, um Betroffene nicht gänzlich vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen, forderte Trabert."

Trabert, Sozialmediziner in Mainz, konstatiert einen Zusammenhang, der heute aufgrund der normativen Bewertung von Erwerbstätigkeit besteht und für Männer besonders gilt. Doch was wäre, wenn dieser normative Vorrang aufgehoben würde durch ein BGE? Soweit scheinen die Befragten nicht gedacht zu haben, dass nämlich stigmatisierende (siehe auch hier) Auswirkungen von Lebensbedingungen erst verstanden sind, wenn man ihre Enstehung erklären kann. Dass "Arbeit", hier Erwerbsarbeit, keine anthropologische Konstante ist, wird allzuleicht übersehen, sie ist menschheitsgeschichtlich jüngeren Datums. Wird sie, wie gegenwärtig, normativ herausgehoben, dann führt der Verlust eines Arbeitsplatzes zu einer sozialen Randstellung, je länger Arbeitslosigkeit dauert desto mehr. Nicht einmal das Engagement in der Familie wird noch als vollwertig anerkannt und soll langfristig zugunsten von Erwerbstätigkeit reduziert werden - darin sind sich die etablierten Parteien einig und kann gut beobachtet werden an der Ausweitung der Betreuungszeiten von Kindertagesstätten.

Wenn nun aber ein BGE zu einer Egalisierung der Tätigkeitsformen führt, weil der normative Vorrang aufgehoben wird, ist eine ganz andere Situation geschaffen. Offenbar ist dieser Zusammenhang nicht so leicht zu verstehen oder er will nicht verstanden werden.

Sascha Liebermann

19. Juni 2018

"Das bedingungslose Grundeinkommen kann nur in einer privilegierten Gesellschaft funktionieren"...

...sagte Andrea Komlosy, Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, im Interview mit dem Wiener Standard unter dem Titel "Atypische Arbeit ist heute typisch". Darin finden sich einige interessante Überlegungen wie die folgende und eine Bemerkung zum BGE:

STANDARD: "Warum ist es wichtig, den Arbeitsbegriff zu erweitern, wie Sie es vorschlagen?
Komlosy: Wenn Arbeit nur als Erwerbsarbeit gilt, die noch dazu mit sozialer Absicherung verbunden ist, dann rutschen alle, die nicht dieser Norm entsprechen, durch. Menschen in unsicheren oder unbezahlten Arbeitsverhältnissen wird so Nichtarbeit unterstellt. Würde man sich angesichts der aktuellen Lage an diesem Arbeitsbegriff festhalten, würden demnach nur sehr wenige arbeiten, weil der Großteil nicht mehr typisch arbeitet, sondern atypisch. Wobei heute das Atypische typisch geworden ist."

Angesichts dieser klaren Einschätzung überrascht dann die pauschale Beurteilung eines BGE:

"STANDARD: Eine Idee des bedingungslosen Grundeinkommens ist die Entkoppelung von Arbeit und Lohn. Eine mögliche Lösung für die Verteilung von Gratisarbeit und Erwerbsarbeit?
Komlosy: Das bedingungslose Grundeinkommen kommt mir wie die Maschinengläubigkeit der Sozialisten im 19. Jahrhundert vor, nach der die Maschine das Notwendige erledigt und der Mensch sich dem Kreativen widmen kann. Das ist völlig illusorisch. Es ist wichtig, dass alle Menschen Zugang zu Einkommen haben, ich finde aber nicht, dass man das Einkommen gänzlich von Erwerbstätigkeit abkoppeln sollte. Allerdings müsste Arbeit völlig anders verteilt werden, und zwar so, dass berücksichtigt wird, dass neben der Erwerbstätigkeit auch andere Formen von Arbeit verrichtet werden müssen. Und das bedeutet Erwerbsarbeitszeitverkürzung. Das bedingungslose Grundeinkommen kann nur in einer privilegierten Gesellschaft funktionieren, die in der Lage ist, Produkte wie Schuhe, Kleider, Möbel, Autos, Handys von irgendwo zu importieren, wo es kein bedingungsloses Grundeinkommen gibt – und wo die Leute richtig schön ausgebeutet werden, damit wir uns diese Produkte leisten können."

Wenn das Einkommen "nicht gänzlich" von Erwerbsarbeit abgekoppelt werden sollte, was könnte das heißen? Doch womöglich nur, dass eine Gegenleistungsverpflichtung bestehen bleibt, deren Erfüllung zumindest kontrolliert werden muss. So kommt sie womöglich zur Überlegung, Arbeit zu verteilen. Wie sollte das aussehen, ohne formalistisch zu werden? Zur Erwerbsverpflichtung in einem bestimmten Umfang käme eine Verpflichtung zu Nicht-Erwerbstätigkeit hinzu. Weshalb dann nicht die Frage, welche Art von Arbeit jemand als wichtig und richtig erachtet, dem Einzelnen überlassen bzw. ihm möglich machen, sie zu ergreifen? Das hält Frau Komlosy für eine privilegierte Vorstellung, wenn sie mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen verbunden wäre. Wie sie zu dieser Schlussfolgerung gelangt, bleibt ihr Geheimnis.

Sascha Liebermann

18. Juni 2018

Was bringt nun die Digitalisierung? Eine Frage zwischen wissenschaftlicher Analyse und festen Überzeugungen

Was sie nun bringen wird, weiß keiner, kann auch keiner wissen, und dennoch äußern sich immer wieder auch Wissenschaftler ganz besonders bezüglich etwaiger Folgen technologischer Innovationen (Digitalisierung) auf den Bedarf an menschlicher Arbeitskraft (Erwerbsarbeit) - um "unbezahlte Arbeit", den größeren Teil des Arbeitsvolumens, geht es dabei ohnehin nie. In der öffentlichen Diskussion mag dies nicht verwundern, weil die Frage, was denn nun die Digitalisierung bringt, der Sorge darum entspringt, was mit den Arbeitsplätzen geschieht. Ist dann nur eine Sorge um Einkommensplätze? Dafür könnte Abhilfe geschaffen werden - durch ein Bedingungsloses Grundeinkommen.

Es scheint eben um etwas anderes zu gehen, etwa die Überzeugung, dass der "Mensch" ohne Beschäftigung moralisch verwahrlose, in der Welt hilflos umherirre, nicht in der Lage, sich selbst eine Aufgabe zu suchen oder gar zu schaffen. Damit hätte Erwerbsarbeit jedoch nicht mehr die Bedeutung, für Wertschöpfung unerlässlich zu sein, es ginge vielmehr um Volkserziehung, zumindest, wenn schon nicht für alle, dann für bestimmte Gruppen.

Wer also Wertschöpfung und menschliche Arbeitskraft notwendig aneinander koppelt und zugleich der Überzeugung ist, der Bürger brauche Führung und eine "Tagesstruktur", wie oft zu lesen ist, kann also nicht anders, als entweder etwaige Folgen der Digitalisierung zu beklagen oder aber sie abzutun. Das ist nicht besser.

Reiner Eichenberger, Kolumnist des Schweizer TagesAnzeigers, und Professor für Theorie der Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg (i.Ue.)., schrieb am vergangenen Samstag, den 16. Juni, über die Folgen technologischer Innovationen auf die "Arbeit". Dass er vom Bedingungslosen Grundeinkommen nichts hält, hat er bei anderen Gelegenheiten unmissverständlich kundgetan. In seinem Beitrag heißt es gleich zu Beginn:

"Viele behaupten, infolge technischen Fortschritts und Roboterisierung gehe uns die Arbeit aus und wir bräuchten halt doch ein bedingungsloses Grundeinkommen. Das ist bedingungslos grundfalsch."

Den ersten Teil würde ich zwar genauso sehen, doch Eichenbergers Behauptung, die er dagegen stellt, ist ebenso nur eine Behauptung und damit genauso "bedingungslos grundfalsch", es sei denn, er könnte hellsehen.

Sascha Liebermann

1. Juni 2018

"Totalität der Erwerbsarbeit" - war denn Friedhelm Hengsbach in der Vergangenheit dagegen?



In einem Interview vor fünf Jahren sagte Friedhelm Hengsbach: "Dies kann nur gelingen, wenn möglichst viele an zusätzlicher, gesellschaftlich organisierter Arbeit beteiligt werden". Vielleicht hatte er da einen erweiterten Arbeitsbegriff im Sinn, ein Bedingungsloses Grundeinkommen lehnte er jedenfalls ab, obwohl genau das und nur es die "Totalität der Erwerbsarbeit" aufheben würde. Siehe unseren Kommentar dazu hier. Da er auch für das Papier "Für eine radikal reformierte Arbeitsgesellschaft" verantwortlich zeichnet, scheint die Meldung sonderbar oder bezeugt sie einen Sinneswandel?

Sascha Liebermann

17. Mai 2018

"Leben in Rente" - Leben nach der "Arbeit"...

...eine interessante Dokumentation des Schweizer Fernsehens auf 3sat über den Umbruch, den der Eintritt in die Rente bedeuten kann und was nach dem Erwerbsarbeitsleben kommen könnte.

8. Mai 2018

"Arbeitslosigkeit ist der endgültige Untergang des Abendlandes"…

…auf diese furchtbaren Folgen der Digitalisierung weist Meera Zaremba von Mein Grundeinkommen e.V. in einer interessanten kleinen Rede hin… "Denn was ist schon ein Mensch ohne Arbeit? Ist ein Mensch ohne Arbeit überhaupt ein Mensch?" – Das genau, die Rede von den Überflüssigen, ist die Haltung in unserer Erwerbsarbeitsgesellschaft (s. dagegen die Äußerung des Investors Albert Wenger), die es so schwer macht, in den Köpfen einen Freiraum für die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens zu schaffen. "Vollbeschäftigung – das Mittel für ewiges Glück"? Oder vielleicht "Solidarisches Grundeinkommen", das Zaremba "Volkswirtschaft als kollektive Beschäftigungstherapie" nennt? – Oder vielleicht doch: Freiheit statt Vollbeschäftigung? Wir haben die Wahl…

Thomas Loer

12. Juli 2017

"Die Bürger sind doch keine Mäuse, an denen man wie im Labor etwas ausprobiert"...

...so Norbert Blüm in einem Interview mit Business Insider über das Bedingungslose Grundeinkommen. Das Zitat trifft den Nagel auf den Kopf, bezieht sich allerdings nur auf Feldexperimente zum BGE. Seine weiteren Ausführungen waren eher zu erwarten, wenn man seinen Beitrag aus dem Jahr 2007 zum "Wahnsinn mit Methode" kennt.

Schon der Beginn ist vielsagend:

"Business Insider: Herr Blüm, wann kommt in Deutschland das Grundeinkommen?
Norbert Blüm: Ich hoffe nie, denn das wäre eine Beleidigung der fleißigen Arbeiter.
BI: Inwiefern?
Blüm: Wenn ich den Kanalarbeitern vor meinem Haus sage, dass bald ein neues System eingeführt wird, bei dem man ohne Arbeit fast so viel Geld bekommt wie sie, werden die den Staat doch für verrückt erklären.
BI: Vielleicht würden die Kanalarbeiter aber auch froh sein, weil sie dann keinen Knochenjob mehr ausüben müssen, um ihr Existenzminimum zu sichern.
Blüm: Ich bin mir sicher, dass die meisten Arbeiter stolz darauf sind, dass sie mit ihrem Job ihre Familie ernähren können – auch wenn sicher viele auf die Belastung bei ihrer Tätigkeit schimpfen. Das bedingungslose Grundeinkommen ist ein Angriff auf die Ehre der Arbeiter."

Worin erkennt Blüm die "Beleidigung"? Zuerst fällt der verengte Arbeitsbegriff auf, der nur gelten lässt, was bezahlt wird. Die Adelung der Leistung entsteht also durch die Bezahlung dafür. Da könnten sich viele zurecht fragen, was denn ihre Leistung wert ist, die nicht bezahlt wird - diejenigen, die für ihre Kinder zuhause sind, Angehörige pflegen, sich bürgerschaftlich engagieren usw. Es ist nicht so, dass Blüm diese Leistung fremd ist, wie er in einem Beitrag vor einigen Jahren erkennen ließ, ordnet sie jedoch ausschließlich der Privatsphäre zu - siehe hier. Ohne Einkommen sind unbezahlte Leistungen aber nicht möglich, sie müssen also ermöglicht werden durch Einkommenssicherung.

Wenn ein BGE so ausgestaltet wird, das es mit keinem weiteren Einkommen direkt verrechnet wird, dann würden die "Kanalarbeiter" mehr Einkommen erzielen als jemand, der nur ein BGE hätte (sieht man einmal davon ab, dass in einem Haushalt mit BGE das Einkommen mit der Anzahl darin lebender Personen zunimmt). Blüms Einwand geht dann am BGE vorbei, es sei denn, ihm reiche der Abstand zwischen BGE und weiterem Einkommen nicht aus. Wäre das gemeint, dann ginge es jedoch um etwas anderes, nämlich um den Status von Erwerbstätigkeit.

"Stolz" leitet Blüm aus einem Verständnis von Autonomie ab, das ihm im Grunde widerstreben müsste. Denn, dass die Kanalarbeiter ihre Familie ernähren können, liegt weder alleine an ihrer "Leistung", noch daran, dass es die Leistung ist, die ihre Familie ernährt. Denn diese Leistung des Einzelnen beruht auf Leistungen anderer, die nach gegenwärtigem Verständnis in die Einkommensbildung gar keinen Eingang finden (Sozialisation, Infrastruktur, politische Vergemeinschaftung, Leistungen vorausgehender Generationen). Auch ist es nicht das Einkommen, das Familien ernährt, sondern die Leistung anderer, durch die das Einkommen erst Bedeutung erhält. Nur weil andere Güter und Dienste erzeugen oder an ihrer Erzeugung mitwirken, kann ich diese in Anspruch nehmen, indem ich sie einkaufe. Diese individualistisch Verkürzung von Leistungszusammenhängen ist das Problem, gegen das ein BGE sich unter anderem wendet. Es erkennt genau diese Voraussetzungen an, ohne die der Einzelne nichts ist. Das BGE ist also kein Angriff "auf die Ehre der Arbeiter", es ist ein Angriff auf die vermessene Vorstellung, dass es diese Art von Arbeit sei, die alleine zum Wohlergehen eines Gemeinwesens beitrage.

Worauf stützt sich Blüms Haltung, das BGE zerstöre die Gerechtigkeitsvorstellung des Sozialstaats?

"BI: Wie können Sie da so sicher sein?
Blüm: Es heißt ja immer, dass das Grundeinkommen die Kreativität fördern würde. Vor zwei Jahren habe ich bei einer Reise in die Arktis eine Siedlung besucht, deren Bewohner vom kanadischen Staat subventioniert werden. Dort gibt es praktisch das bedingungslose Grundeinkommen. Jeder, der das Grundeinkommen unterstützt, sollte dort einmal hinfahren. Dort zermürbt die Langeweile die Menschen. Von Kreativität habe ich dort nichts gemerkt, eher von Alkoholismus."

Was wird hier miteinander verglichen? Da Blüm sich nicht weiter auslässt, steht zu vermuten, dass er eine Siedlung der aboriginal Canadians, auch Inuit genannt, besucht hat. Ihr Lage ist vermutlich mit der der First Nations vergleichbar. Ohne das weiter zu vertiefen, was für den Vergleich sicher sinnvoll wäre, wird eines zumindest deutlich. Es handelt sich eben nicht um ein BGE, sondern um eine Alimentationsleistung, die ihm nahe zu kommen scheint. Das ist vergleichbar mit der Sozialhilfe in Deutschland, die zwar eine nachrangige Leistung darstellt, die nicht als dauerhafte Alimentierung vorgesehen ist, faktisch dazu jedoch werden kann. Deswegen wird sie jedoch nicht zu einem BGE, denn sie bleibt normativ eine nachrangige Leistung und diejenigen, die sie beziehen, müssen sich - ganz gleich, wie lange die Leistung bezogen wird - für sie rechtfertigen. Der Vergleich ist also schief. Dass Blüm nun diesen Zusammenhang so deutet, dass die Alimentierung zu Langeweile führe, ohne auf den normativen Charakter der Leistung und ihre stigmatisierenden Folgen zu schauen, entspricht derselben Bornierung, mit der sozialwissenschaftliche Studien das relativ höhere ehrenamtliche Engagement von Erwerbstätigen gegenüber Erwerbslosen konstatieren. Auch das ist nur zu verstehen, wenn die stigmatisierenden Wirkungen von Erwerbslosigkeit berücksichtigt werden.

Interessant ist die folgende Passage:

"BI: Das klingt, als wollten Sie das Grundeinkommen zur potentiellen Gefahr für die Demokratie hochspielen.
Blüm: So weit würde ich nicht gehen. Aber die Idee hinter dem Grundeinkommen ist zumindest eine Gefahr für unsere Kultur. Es gehört doch zum Wesen und zur Selbstverwirklichung des Menschen, dass er einer Arbeit nachgeht und an Widerständen wächst. Die Arbeit ist mehr als nur das Beschaffen von Einkommen. Sie schafft auch das Bewusstsein von Solidarität. Ohne Arbeit wären wir schon längst verhungert und erfroren."

Hier wird klar, woher Blüms Deutung rührt. Zuerst einmal trifft er einen wichtigen Punkt, wenn er sagt, dass man an Widerständen wachsen kann. Welche Widerstände allerdings meint er? Ein verengtes Verständnis von "Arbeit" führt nun dazu, dass es ganz bestimmte Widerstände sind, an denen der Einzelne wachsen kann: Widerstände in Erwerbsarbeit. Er sagt nichts darüber, wann ein solches Wachsen begünstigt wird und wann nicht, d.h. unter welchen Bedingungen die Erfahrungen möglich werden, die Blüm im Auge hat - es klingt ganz nach "Not macht erfinderisch", sie verengt indes auch den Blick. Sicher ist Arbeit mehr als Einkommen oder besser gesagt, Einkommen ist eine Nebensache, die zwar wichtig ist, nicht aber dafür sorgt, dass gut gearbeitet wird. Dass wir "ohne Arbeit" schon längst "verhungert" wären - wohl war. Das gilt aber ebenso, wenn nicht noch viel mehr für die Fürsorge durch Eltern oder andere sich einem zuwendende und bedingungslose annehmende Personen.

Und wie verhält es sich mit Solidarität? Hier sitzt Blüm einer Verklärung auf. Solidarität im umfassenden Sinne bildet sich nicht in arbeitsteiligen Prozessen der Erstellung von Gütern und Dienstleistungen, sondern als Resultat von Vergemeinschaftungszusammenhängen, in denen der Mensch als ganzer im Zentrum steht. Das ist in Arbeitsverhältnissen jedoch nicht der Fall, der Einzelne als Mitarbeiter steht im Dienst einer Aufgabe, zu deren Zweck er eingestellt wird. Taugt er für die Aufgabe nicht oder nicht mehr, müssen andere an seine Stelle treten. Gemessen wird er daran, ob er die ihm übertragenen Aufgaben bewältigt oder nicht. Die einzige "Solidarität", die hier zum Tragen kommt, ist Kollegialität bezüglich eines gemeinsamen Zweckes, dem gedient wird. Die Kollegialität ist auf eine Sache bezogen, nicht auf die Personen als ganze. Blüms Deutung entspricht einem verbreiteten Missverständnis, das auch Grund dafür ist, unser Gemeinwesen als "Arbeitsgesellschaft" zu verstehen (siehe hier und hier). Weitere Ausführungen dazu finden Sie auch hier.

Es geht weiterhin darum, dass ein BGE für Millionäre in Blüms Augen unberechtigt sei, weil sie es ja nicht brauchen und der Sozialstaat mehr als nur die Umverteilung von Geld bedeute. Letzteres trifft in der Tat zu, allerdings ist es nur eine Variante des BGE, die Sparversion, alle Leistungen oberhalb des BGE abzuschaffen - auf sie bezieht sich Blüm. Darüberhinaus übergeht er stillschweigend, unter welchen Bedingungen heute "Beratung" im Sozialstaat angeboten wird, die gerade im Leistungsbezung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nicht wirklich freiwillig wahrgenommen werden kann und zumal noch stigmatisierend sind des normativen Charakters der Leistungen wegen.

Dann kommt der Interviewer auf den Arbeitsmarkt zu sprechen:

"BI: Immer mehr Menschen finden es absurd, dass gering qualifizierte Bürger praktisch gezwungen sind, körperlich anstrengende und würdelose Arbeit zu verrichten, um ihr Existenzminimum zu sichern. Was hat das noch mit einem Arbeitsmarkt zu tun? Sollte man auf einem funktionierenden Markt nicht auch „Nein“ sagen können?
Blüm: Materielle Erwerbsabsichten und das Gefühl, in der Welt gebraucht zu werden — das schließt sich ja nicht aus. Und außerdem hat noch niemand die Frage beantwortet, wer in der Welt eines bedingungslosen Grundeinkommens überhaupt noch die schwere Arbeit verrichten soll, wenn man auch ohne eine Gegenleistung Geld vom Staat bekommt. Professoren haben wir genug, aber Kanalarbeiter würden dann wohl fehlen."

Hier zeigt Blüm dieselbe Haltung wie viele und reproduziert Klischees, als sei es für jedermann eine interessante Perspektive, eine Professur anzustreben, aber keinesfalls Kanalarbeiter zu werden - Vorurteile lassen grüßen (siehe hier, hier und hier), statt die verschiedenen Lebensambitionen ernst zu nehmen.

Ganz konsequent geht es weiter:

"BI: Können Sie denn der Vorstellung etwas abgewinnen, dass Menschen bei der Einführung eines Grundeinkommens ihre Talente und verborgenen Fähigkeiten entdecken können, wenn sie keinen Arbeitszwang mehr verspüren?
Blüm: Die Welt besteht nicht nur aus Arbeit, die Spaß macht. Das Grundeinkommen ist eine Idee für Menschen aus den Oberschichten. Außerdem bezweifle ich, dass Nichstun kreativ macht. Es ist eine Schlaraffenland-Idee zu glauben, dass die Menschen alle zu Picassos werden, wenn sie nicht mehr arbeiten. Vielleicht werden viele ja auch Säufer."

Nur Polemik gegen die berechtigte Frage des Interviewers - haben die Menschen diesseits der "Oberschichten" keine Talente und Fähigkeiten? Man ist geneigt, Blüm entgegenzurufen, genau, ein Recht darauf, Säufer werden zu dürfen, das wäre nötig, um der Engstirnigkeit zu entkommen.

Anders die darauffolgende Passage:

"BI: Umfragen zeigen, dass selbst bei einem Lottogewinn nur wenige ihren Job aufgeben würden. Trotzdem hätten viele dann sicherlich mehr Muße für Dinge, die sie wirklich erfüllen.
Blüm: Keine Frage, die Menschen wollen sich auch außerhalb der Arbeit entfalten. Die Welt kann aber nicht nur von Kreativität und schöpferischer Tätigkeit ernährt werden. Es muss auch noch Menschen geben, die die Wasserleitungen reparieren. Ich bin für ein Grundeinkommen im Sinne der Existenzsicherung. Das ist aber nicht bedingungslos, sondern richtet sich nach der Bedürftigkeit."

Das Lotteriebeispiel ist schlecht, weil es nicht das Gemeinwesen ist, das die Einkommenssicherheit als Solidarakt verschafft, sondern ein Gewinnspiel, in dem ein Glückstreffer gelandet wurde. Außerdem bleibt in der Lottogewinnwelt die Erwerbsnorm fortbestehen und entfaltet weiter ihre Wirkung auf alle, auch die Lottogewinner.

Erstaunlich ist, dass Blüm gar nicht sieht, wie sehr die Dienstleistungen, die er ins Spiel bringt, doch genau deswegen, weil sie notwendig sind, erfüllend sein können. Gibt es denn Menschen, die "Wasserleitungen reparieren", weil ihnen keine andere Perspektive zugestanden, sie unter die Knute genommen werden? Das haben andere schon die Skalvenhalterperspektive genannt. Auch heute können wir nicht garantieren, dass für Berufe oder Aufgabe auch Personen sich finden, die sie zu übernehmen bereit sind.

"BI: Aber Sie müssen doch zugeben: Die Idee des Grundeinkommens passt perfekt zu den Werten der heutigen 18-45-Jährigen. Von ihnen wollen viele weniger Arbeit und Stress, dafür mehr Zeit für Familie und Reisen.
Blüm: Der technische Fortschritt gibt uns doch schon mehr Freiräume als früher. Meine Kinder haben mehr Freizeit als ich und ich wiederum habe deutlich mehr Freizeit als mein Großvater. Diese Entwicklung will ich nicht bremsen, auch nicht, dass Familie und Freunde immer wichtiger werden. Aber ich glaube nicht an die Utopie, dass wir als eine Gesellschaft der Arbeitslosen überlebensfähig sind."

"Gesellschaft der Arbeitslosen?" Darum geht es doch gar nicht.

Abschließend trifft Blüm den Nagel auf den Kopf, aber nicht so, wie er vielleicht denkt:

"BI: Was spricht denn dagegen, das Modell zumindest einmal zu testen? So wie in Finnland oder den Niederlanden?
Blüm: Dafür muss man erst einmal wissen, was genau man denn überhaupt testen will. Die Bürger sind doch keine Mäuse, an denen man wie im Labor etwas ausprobiert. Wir sollten nicht mit dem Schicksal der Menschen spielen."

Vollkommen richtig, was Blüm hier herausstellt. Es geht nicht an, mit "dem Schicksal der Menschen" zu "spielen", oder anders und in meinen Augen treffender ausgedrückt: Die Bürger in einer Demokratie können nicht zum Gegenstand von Versuchen oder Tests gemacht werden, weil das ihrer Entmündigung gleichkommt (siehe Kommentare zu Feldexperimenten). Feldexperimente mit dem BGE kommen Bürgermündigkeitsprüfungen gleich.

Sascha Liebermann

7. Juli 2017

"Weiter arm, trotz Arbeit"...

...dazu hat das WSI der Hans Böckler Stiftung eine Studie verfasst. Darin heißt es u.a.:

"Das Beispiel Deutschland sei „besonders bemerkenswert“, so die Forscher. Einerseits stieg die Beschäftigungsrate zwischen 2004 und 2014 stärker als in den meisten europäischen Ländern, andererseits verzeichnete Deutschland den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmut. Wie passt das zusammen? „Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Beschäftigungswachstum und Armut komplizierter als gemeinhin angenommen“, so die Wissenschaftler. Mehr Arbeit sei keine Garantie für weniger Armut – zumindest dann nicht, wenn die neuen Jobs nicht angemessen entlohnt werden oder die Stundenzahl gering ist. Die positive Entwicklung auf dem deutschen Arbeitsmarkt beruhe zu einem großen Teil auf einer Zunahme atypischer Beschäftigung, vor allem Teilzeit, häufig im Dienstleistungsbereich und im Niedriglohnsektor. Die Ausweitung des Niedriglohnsektors sei durch weitgehende Deregulierungen des Arbeitsmarktes, die Kürzung von Transferleistungen und verschärfte Zumutbarkeitsregelungen beschleunigt worden. Der Druck auf Arbeitslose sei gestiegen, möglichst schnell eine Arbeit zu finden. „Maßnahmen, die Arbeitslose dazu zwingen, Jobs mit schlechter Bezahlung oder niedrigem Stundenumfang anzunehmen, können dazu führen, dass die Erwerbsarmut steigt, weil aus arbeitslosen armen Haushalten erwerbstätige arme Haushalten werden“, schreiben die Wissenschaftler."

23. Mai 2017

"...ich möchte unabhängig sein"... oder: Einwände gegen ein Grundeinkommen dafür

Gegen Ende ihres Vortrags auf der re:publica sagte Bundesministerin Andrea Nahles den entscheidenden Satz, der begründen sollte, weshalb sie gegen ein BGE ist (gesamte Videoaufzeichnung, 2:06:30 bis 3:09:00):

"...ich will das nicht haben, ich will weder Geld von meinem Ehemann, ich will auch kein Geld von meinen Eltern, ich will auch kein Geld von meinem Staat, es tut mir leid, es widerstrebt mir [...] ich möchte unabhängig sein"

Sie betonte mehrfach, dass sie das so sehe und andere es anders sehen können, sie jedoch wolle ein solches BGE nicht. Was ist an der Äußerung bemerkenswert? Es ist der Widerwille gegen Abhängigkeit, der sich vorwiegend gegen Geldleistungen richtet. Wie in einer Nußschale zeigt sich eine bestimmte Weltsicht, aus der heraus bestimmte Schlußfolgerungen ganz konsequent scheinen. Ist diese Vorstellung von Unabhängigkeit nicht illusionär?

Vom Ehemann - oder andersherum gedacht von der Ehefrau oder noch weiter: vom Lebenspartner - mit dem das Leben geteilt wird, kein Geld nehmen oder haben zu wollen, ist eine sonderbare Vorstellung. Wer das Leben teilt - etwas Höheres zu teilen gibt es nicht - teilt alles. Dazu gehört das Einkommen selbstverständlich. Es herauszuhalten kommt einem Vorbehalt gleich, so als müsse man sich dagegen absichern, dass der andere einen einst über den Tisch ziehen wird. Mit diesem Vorbehalt gibt es kein vorbehaltsloses Zusammenleben, damit kein bedingungsloses Vetrauen. Das lässt sich ganz gut im Alltag beobachten, wenn Paare getrennte Kassen haben und klären müssen, wie sie mit Ausgaben umgehen, die so anfallen. Wer zahlt, wann, wieviel? Wer ist an der Reihe? Wer also die Unabhängigkeit will, die Frau Nahles herausstellt, sollte sich nicht binden, denn jeder Paarbeziehung erfordert es, sich vom anderen abhängig zu machen, teilt man nicht. Das mag anti-emanzipatorisch klingen, ist jedoch die Konsequenz daraus, das Leben teilen zu wollen. Geld, das Frau Nahles nicht haben will, steht nur stellvertretend dafür, füreinander einzustehen. Wer also das Geld nicht teilen will, will auch nicht füreinander vorbehaltlos einstehen.

Dass ein Erwachsener von seinen Eltern nur ungerne in Einkommensangelegenheiten abhängig ist, ist nachvollziehbar, da eine Ablösung von den Eltern notwendig ist, um erwachsen werden zu können. Es kommt also einem Rückschritt gleich, wenn der Umstand eintritt, von den Eltern wieder versorgt werden zu müssen (statt vom Gemeinwesen Unterstützung zu erhalten, das sind nämlich zwei sehr verschiedene Dinge). Wenn Frau Nahles nun die Abhängigkeit vom Lebenspartner in einem Atemzum mit der von den Eltern nennt, ist das erstaunlich, weil beide nicht vergleichbar sind. Die Eltern kann man sich nicht aussuchen, den Lebenspartner schon, weil man erwachsen ist.

Vom Staat als Gemeinwesen der Bürger unabhängig sein zu wollen, ist allerdings weder Zeichen dafür, erwachsen zu sein noch realistisch. Ein Gemeinwesen von Bürgern ist der Inbegriff von vollständigem Aufeinanderangewiesensein als Solidargemeinschaft, mehr Abhängigkeit geht nicht. Da ist es nur ein schöner Schein zu glauben, wer von dieser Gemeinschaft kein Geld erhalte, sei von ihr nicht abhängig.

Abgesehen davon ist Einkommen in Geldform ziemlich nutzlos, wenn dafür keine Leistungen abgerufen werden können. Geld verspricht lediglich, dass es diese Leistungen gibt, es bringt sie jedoch nicht hervor. Andrea Nahles Verständnis von Unabhängigkeit übersieht all diese Abhängigkeiten, die der Geldunabhängigkeit zugrundeliegen. Dass nun gerade eine Bundesministerin, deren Gehalt vom Steuerzahler abhängt, auf Unabhängigkeit in Geldfragen setzt, gibt der Äußerung beinahe ironischen Charakter. Aber selbst der Steuerzahler, der sich hier auf die Schulter klopfen könnte, weil er zum Steueraufkommen beiträgt, ist ja nicht unabhängig von den gemeinschaftlichen Vorleistungen, die notwendig sind, damit Wertschöpfung im engeren Wirtschaftssinne erfolgen kann. Dazu gehören nicht nur staatliche Leistungen, dazu gehören vor allem gelungene Bildungsprozesse, die ganz entscheidend durch fürsorgliche Eltern sowie Bildungseinsrichtungen ermöglicht und durch das Gemeinwesen getragen werden.

Von daher ist es widersinnig, dass Andrea Nahles zwar mehr Selbstbestimmung auch in Erwerbstätigkeit schätze, wie sie sagt, "Familienarbeit" und Ehrenamt für wichtig halte, aber gerade die Ermöglichung und Anerkennung dieser Tätigkeiten, die ein BGE schüfe, nicht haben will.

In dem Statement auf der re:publica bemängelt sie darüber hinaus, dass "pauschale monetäre Transfers" für Menschen mit Behinderungen nicht ausreichen. Ist das ein Einwand gegen das BGE? Nein, es zeigt nur, dass es über das BGE hinaus weiter bedarfsgeprüfte Leistungen geben muss, die allerdings aufgrund eines BGE ihren Charakter verändern würden. Denn die Bedarfsprüfung orientiert sich in keiner Form mehr daran, den Einkommensausfall aus Erwerbstätigkeit auszugleichen, sondern die Selbstbestimmung im Sinne von Autonomie zu unterstützen.

Dass ein BGE "Armutsprobleme" nicht "aufknacke", ist ein weiterer Einwand, den sie vorbringt, der allerdings ebenso ins Leere läuft (siehe meinen Kommentar zu Armut). Zwar ist das BGE kein Wundermittel, es verhindert weder lebensgeschichtliche Traumatisierungen noch die Folgen davon. Es trägt allerdings dazu bei, sich Hilfe verschaffen zu können, ohne dazu gleich auf eine Sozialbehörde angewiesen zu sein, z. B. wenn therapeutischer Bedarf ist. Wo Armut lediglich Ausdruck von Einkommensmangel ist, wo Menschen "ökonomisch schwach" sind, ist das BGE eine entscheidende Hilfe, ohne diese Schwäche selbst als Anlaß zu benötigen. Denn es wird bedingungslos bereitgestellt. Dort, wo andere Problemlagen der Grund für Armut sind, kann das BGE wenigstens eines erreichen: dem Einzelnen eine Basis zu verschaffen, auf der er Angebote ablehnen kann, ohne sein Auskommen zu gefährden.

Nicht nur Armutsprobleme will die Bundesministerin jedoch "aufknacken", auch familiäre Strukturen - mit welchem Recht eigentlich? Welche Staatsanmaßung über den Schutz des Kindeswohls hinaus kommt darin zum Ausdruck? Wo das Kindeswohl gefährdet ist, haben wir eine Rechtslage, die Interventionen erlaubt, das muss reichen. Diese geradezu sozialistische Vorstellung der Umbildung von Familien findet sich allerdings in vielen Programmen wieder, wie z. B. den "Frühen Hilfen", die mit einem Generalverdacht operieren, siehe hier und das Dormagener Modell. Remo Largo sprach vor kurzem davon, dass unser Vorstellung vom Leben heute planwirtschaftliche Züge habe (hier und hier).

Es darf natürlich die Forderung nach mehr Investition in Bildung, Weiterbildung und Qualifizierung nicht fehlen - wer hätte heute dagegen etwas? -, allerdings muss dann gefragt werden, unter welchen Bedingungen sie angestrebt werden: zwangsverpflichtet oder freiwillig? Frau Nahles neigt zur ersten Option, die in vielen Bildungsprogrammen bis in die kulturelle Bildung hinein angelegt ist.

Zuletzt nennt sie noch einen Fall, an dem sie ins "Schwanken" geräten könnte ob möglicher Wirkungen eines BGE: die "Niedriglohnarbeit". Doch, so ihr Einwand, das sei eben nicht so, denn, wie die Minijobs zeigen, werde das "eingepreist". Eingepreist? Doch was heute als Einpreisung erscheint (sie meint vermutlich den Kombilohneffekt oder Vergleichbares), wäre mit einem BGE zu großen Teilen in die Hände der Arbeitnehmer gelegt. Wer einen Minijob ablehnen kann und dennoch ein auskömmliches Einkommen hätte durch das BGE, hat Macht. Die hat er heute nicht.

Einen Einwand antizipierend, dass die Rente doch auch eine staatliche Einkommensleistung sei, verweist sie darauf, dass dies etwas anderes sei, schließlich erwirbt man Ansprüche durch Beiträge. Ja, Ansprüche schon, aber er ermöglicht es, dass diese Ansprüche auch in Einkommen umgesetzt werden? Auf der einen Seite das Gemeinwesen, das eine solche umlagenfinanzierte Rente einrichtet, auf der anderen diejenigen, die ihren ihren Beiträgen in der Gegenwart die Renten der Gegenwart finanzieren. Und wer noch? Diejenigen, die dafür sorgen, dass es auch zukünftig Renten geben kann, weil Leistung erbracht wird, also wer? Die Familien! Die vermeintliche Unabhängigkeit, von der Frau Nahles spricht, nach der sie sich vielleicht sehnt, ist fiktiv, nicht real.

Abschließend sei noch der Gegenvorschlag zum BGE erwähnt, den Frau Nahles sich vorstellt. Sie sprach von einem "steuerfinanzierten Startguthaben für jeden Bürger ab dem 18. Lebensjahr", das "möglichst frei" nutzbar sein soll allerdings nur im Rahmen bestimmter Tätigkeiten. Einen ähnlichen Vorschlag hatte sie schon im Interview mit dem Magazin jetzt vor wenigen Monaten vorgebracht. Dort sagte sie:

"Ich würde jungen Menschen gern ein sogenanntes Startguthaben mitgeben. Das heißt: Jeder hat ein Kontingent an staatlich bezahlter Auszeit. Darauf kann man zurückgreifen, zum Beispiel um eine Weiterbildung, eine selbstbestimmte Auszeit, eine berufliche Neuorientierung oder auch eine Gründung zu stemmen. Ich will, dass wir das viel zitierte „lebenslange Lernen“ damit verankern. Um die Leute am besten gar nicht erst arbeitslos werden zu lassen. Das schafft mehr Gerechtigkeit, auch für diejenigen, denen die Eltern in schwierigen ­Berufsphasen nicht finanziell zur Seite springen können."

Würde ein solches Startguthaben in der erwähnten Höhe viel verändern? Nun, an der Erwerbszentrierung unseres Lebens, an der des Sozialstaates, würde es gar nichts ändern. Es würde an der Degradierung von unbezahlter Arbeit festhalten, Familien keinen größeren Spielraum verschaffen, Arbeitnehmer nicht stärken, die Bürger im Bann der Erwerbsnorm stehen lassen und anderes mehr. Womöglich ist dieser Vorschlag das Maximum an Liberalität, das man von jemandem erwarten kann, der so sehr auf Erwerbstätigkeit geeicht ist.

Sascha Liebermann